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Weiterhin Blinde-Kuh-Spiel am Rande des Abgrunds

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Die Wähler erwarteten sich aus diesen Wahlen politische Stabilität, doch was auf sie zukommt, sieht nicht danach aus. Die Parlamentsmehrheit, auf die sich der designierte Premier Romano Prodi derzeit stützen muß, ist von der marxistisch-kommunistischen Partei (PRC) abhängig, die von Privatisierungen, Sparmaßnahmen, Maastrichter-Konvergenzkriterien und vielen anderen unpopulären Punkten des Regierungsprogramms überhaupt nichts hören will. Ihr Beitritt zur Mitte-Links-Koalition war ausschließlich eine vom Mehrheitswahlgesetz bedingte technische Notwendigkeit, um diese Wahlen zu gewinnen, nicht auch um zusammen zu regieren.

Zur Niederlage der Rechts-Koalition „Pol der Freiheit"haben mehrere Faktoren beigetragen, unter anderem das nicht mehr lupenreine Image des Koalitionschefs Silvio Berlusconi und seines videokratischen Imperiums, wie auch die Prädominanz der Nationalen Allianz innerhalb der Koalition. Doch der Hauptgrund des großen Flops liegt in der eigentlichen Sensation dieser Wahlen: im völlig überraschenden Aufschwung der Lega Nord Umberto Bossis, die im konservativen Lager die meisten Stimmen einholte.

Bossi hat sich in den letzten Wochen der Wahlkampagne besonders aufsehenerregender separatistischer und rassistischer Parolen bedient, die in den tiefen Provinzen Nord-Italiens großes Echo fanden. Es war eine verzweifelte Taktik, um seine schon für tot erklärte Bewegung wieder ins Leben zu rufen - und dies ist ihm gelungen; der Preis dafür könnte aber seine politische Isolation sein.

Kurze Rückblende: Die Lega Nord ist eine Bewegung, die als Lösung des großen Nord-Süd-Problems Italiens (die sozial erschütterten Regionen

Süd-Italiens sind im Vergleich zu Nord-Italien ein Entwicklungsland und dementsprechend auf dessen Solidaritätsabgaben völlig angewiesen) die Einführung einer föderalistischen Verfassungsreform vorbrachte. Mit diesem für Italien außerordentlich aktuellen Reformvorschlag und dem Charisma Umberto Bossis ließ sich nach dem Untergang der traditionellen Alt-Parteien auch die katholische und gemäßigte Wählerschaft überzeugen.

Bossis „souveränes Parlament Padaniens"

Die Lega Nord erzielte 1994 ein unglaubliches Resultat: größte Parlamentsgruppe mit 180 Abgeordneten; Regierungspartei mit sechs wichtigen Bundesministern; einen Parlamentspräsidenten und mehr als 100 Bürgermeister in ganz Ober-Italien.

Die immer mehr rassistischen und intoleranten Töne, die die Bewegung annahm (berühmt wurde unter vielem anderen gleichen Niveaus ein Gesetzesentwurf, mit dem man vorschlug, farbigen Immigranten nicht nur die Finger-, sondern auch die Fußabdrücke abzunehmen), sowie auch die nicht ganz einwandfreie Organisation der Partei (Bossi und der Geschäftsführer der Lega wurden unlängst wegen Schwarzgelder zu zwei Jahren Haft verurteilt) und die große Enttäuschung unter den erwartungsvollen Wählern über die mangelnde Regierungsfähigkeit der Partei (viele Bürgermeister der Lega mußten vorzeitig abtreten, und als größte Regierungspartei hat sie kein einziges nennenswertes Gesetz verabschiedet) entfremdeten ihr die gemäßigten, bürgerlichen und katholischen Wählerschichten und brachten der Bewegung in den folgenden Wahlen minimale Prozentsätze (in Mailand zum Beispiel von 41 beziehungsweise 53 Prozent 1993 auf neun Prozent 1995, elf Prozent 1996).

Um dieser verzweifelten Situation zu entkommen, spielte Bossi nun seine letzte Karte aus: einen mit Intoleranz gefärbten Sezessionismus, mit dem er die reichsten und höchstindustrialisierten Begionen Nord-Italiens (Lombardei, Piemont, Friaul und Ve-netien, von ihm kurz „Padanien" umgetauft) vom restlichen Italien trennen möchte. Er läßt sich nunmehr von seinen fanatischen Fans und Mitarbeitern öffentlich „Braveheart" nennen und spricht, auch in Interviews, von günstigen Sternenkonstellationen, die die „Befreiung der unter-

drückten Völker Nord-Italiens ankündigen".

In Mantua hat Bossi vor einem Jahr das „souveräne Parlament Padaniens" einberufen, aus Abgeordneten der Lega Nord zusammengesetzt, das regelmäßig tagt. Diese fragwürdigen Aktionen, die am Rande der Legalität

stehen, wurden allgemein stets als politische Folklore belächelt und unterschätzt (manchmal wird sogar aus politischem Opportunismus daran vorbeigesehen), weil man fest davon überzeugt ist, daß die Wähler so einen Unsinn nie legitimieren werden.

Di Pietros offizieller Eintritt in die Politik

Dies ist die wahre Sensation der jüngsten Wahlen: zirka 35 Prozent der Stimmen für die Lega Nord in Nord-Italien, zehn Prozent auf Nationalebene. Nach so einer gehetzten Wahlkampagne kann man dieses Ergebnis nicht mehr als reine Folklore oder sterilen Protest abqualifizieren, sondern muß es als Anzeichen einer viel radikaleren Wende bewerten.

In diesem Sinne hat letzten Samstag, 4. Mai, das „souveräne Parlament Padaniens" den Föderalismus endgültig aufgegeben und offiziell die Sezession angekündigt - nach tschechoslowakischem Muster; dabei wurde auch

ein pseudo „Befreiungskomitee Pada-niens" gegründet: lauter Fanatiker in grüner Uniform. Umberto Bossi hat damit jede politisch tolerierbare strafrechtliche und verfassungsrechtliche Grenze überschritten. Es ist wahrscheinlich, noch nicht realistisch (weil mehrere Voraussetzungen fehlen), daß man ein jugoslawisches Syndrom befürchten muß. Man kann dennoch nichts mehr ausschließen, vor allem isolierte Aktionen mancher außer Kontrolle geratener Fnatiker. Die Öffentlichkeit und die politischen Kräfte Italiens nehmen das aber noch immer nicht ernst genug. Doch man muß sich mit diesen äußerst gefährlichen Entwicklungen bald auseinandersetzen, was aber nur im engen Einvernehmen der zwei großen Koalitionen möglich ist.

Soviel Staatsräson scheint zur Zeit noch nicht vorhanden: Die Konservativen fühlen sich um den Wahlsieg betrogen und wollen auf keinen Fall die rote Koalition unterstützen, während diese, um sich irgendwie aus der Sackgasse mit der PRC herauszumanövrieren, bis vor ein paar Tagen noch den Gedanken in Erwägung zog, die Lega um ihre

Stimmen zu bitten, was jetzt nicht mehr möglich ist.

Dieses Klima versucht nun Antonio Di Pietro auszunutzen mit seinem offiziellen Eintritt in die politische Arena. Der ehemalige Star-Staatsanwalt steht noch immer an der Spitze aller Meinungsumfragen über den idealen Regierungschef. Er wird als Minister der Öffentlichen Bauarbeiten der nächsten Regierung angehören. Währenddessen hängt über diesem Land unerbittlich das Damoklesschwert der Arbeitslosigkeit im Süden (mehr als 20 Prozent, unter den Jugendlichen gar 50 Prozent), der überwältigenden Staatsschulden und eines immer unwahrscheinlicheren Beitritts zur europäischen Währungsunion. Ein amerikanischer Auslandskorrespondent bemerkte neulich treffend: Es sieht ganz danach aus, als ob Italien weiterhin am Rande des Abgrunds blinde Kuh spielen möchte.

Dr. Christian Monti

ist politischer Beobachter undfreier Journalist in Mailand.

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