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Welt in der Wende

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Die chinesische Feuerglocke, die über Quemoy hängt, läutet auch weltpolitisch das neue Jahr 1959 ein.

Die Brandherde des verlöschenden Jahres sind noch nicht verglommen: im Libanon und um Aegypten, in Algier und Zypern. Ja, dei sowjetische Außenminister Gromyko hat zu Weihnachten Berlin ein mögliches zweites Sarajewo genannt. — Der Mitteleuropäer beobachtet mit Sorge zwei Vorgänge: den steigenden Druck der Sowjets auf Finnland und die politische Zerklüftung Westeuropas. Wenn der rasche Blick weitergleitet, wird er nicht beruhigt: Spanien und Portugal befinden sich in einer offenen Krise. In Frankreich und Italien haben die Staatschefs alle Kräfte anzuspannen, um die permanente Krise zu meistern. Soeben drohte de Gaulle mit Rücktritt, Fanfani rettete seine Regierung über das Jahresende. — Im bisher stabilsten Land Nordafrikas, in Marokko, ist soeben eine linksrevolutionäre Regierung ans Ruder gekommen.

Es gehört zum raschen Blick auf die Tagesereignisse, die Unruhe wahrzunehmen. Es ist Aufgabe der Besinnung, hinter den turbulenten Tagesereignissen das Wirken größerer Prozesse wahrzunehmen, die sich mit biologischen Vorgängen vergleichen lassen, gehorsam inneren Gesetzen, tief unter dem Lärm und der Fieberglut der Exzesse.

Weltkörper wachsen heran, gehorsam ureigensten Strebungen und Möglichkeiten. Da beeindruckt den Europäer vor allem das Wachsen Afrikas zu einem Weltgewicht eigener Art. In zwei Föderationen zunächst„ in einem afrikanischen. Block um Ghana, in einem arabischen Block um Kairo. Die Volksführer und Politiker in Afrika messen den Ideologien, die Ost und West ihnen importieren, durchaus mindere Bedeutung zu: Leistung, Arbeit, Geld, Industriegüter, technische Ausrüstung — das ist es, was diese Afrikaner wollen. Vom Osten und vom Westen. Sie sind der Ueberzeugung: östliche und westliche Mächte können den Aufstieg ihrer Völker zwar noch empfindlich stören und verzögern, nicht aber aufheben, verhindern. Diesen Grundton des Vertrauens in die Zukunft ihrer Völker kann kein Staatsmann, der nach Afrika kommt, mehr überhören: sei es Nixon oder Gromyko, sei es ein Italiener oder Deutscher.

Neben den Amerikanern und Europäern blicken die Chinesen und Russen auf Afrika; beide vom Ehrgeiz beseelt, ihre Gesellschaftsform als Modell vorzustellen. Wobei das kommunistische China im letzten Jahr sichtlich vom Ehrgeiz beseelt war, seinen russischen Bruder zu überrunden: eben durch den Aufbau der „Volkskommunen”, als einer für technisch unterentwickelte Völker „nützlichen” Form, um raschestens das Land zu industrialisieren und wirtschaftlich zu erschließen. Mao hat sein Experiment nicht ohne Rückblick auf Indien und Afrika unternommen. Rund 700.000 Kolchosenwurden zu rund 26.000 Volkskommunen zusammengelegt: Lebensgemeinschaften, technischpolitische Gebilde, die an die alten Großsippen Chinas erinnern, und deren straffe Disziplinierung unter Führung der „Mutter” durch die Führung der neuen Mutter, der Partei, ersetzt wurde. Die Auspressung der Volkskraft hat gigantische materielle Erfolge gebracht. Und dennoch: Die 6. Plenarsitzung des ZK der Kommunistischen Partei Chinas hat soeben dieses Experiment gestoppt. Die Chinesen haben damit chinesisch auf eine nicht zuletzt für sie selbst gefährliche Ueberanstrengung reagiert: das Experiment der Volkskommune drohte, Chinas Völker an Leib und Seele zu überfordern — Aufstände und Revolten wurden mehrfach gemeldet — und gleichzeitig den Anschluß zu verlieren: Moskau ist nicht bereit, sich von Peking reglementieren zu lassen. Chruschtschow dürfte ein Gutteil seiner machtpolitischen Erfolge im Ringen um Moskau und Peking dieser Tatsache zuzuschreiben haben, ln Moskau setzt sich auf die Dauer nur durch, wer „orthodox” ist; und das bedeutet, keiner Macht auf der Welt etwas preiszugeben, was einmal dem russischen Herrschaftsbereich eingegliedert oder von diesem beansprucht wurde.

Die Vereinigten Staaten zeigen sich in letzter Zeit durch drei Momente sichtlich beeindruckt: durch die Erfolge ihrer Fernraketen, durch die Erkundungsfahrten einiger prominenter Politiker nach Moskau und durch die Konflikte ihrer europäischen Verbündeten untereinander. Die amerikanische Interkontinental- Rakete gestattet es den USA, auf militärische Basen in Westeuropa zu verzichten. Nach dem Besuche Mikojans in Washington wird man dort die Gelegenheit wahrnehmen, die Eindrücke der amerikanischen Politiker in Moskau 1958 mit den Vorschlägen des zweiten Mannes in Moskau zu vergleichen.

Die Konflikte der westeuropäischen Mächte untereinander: Wie eindrucksvoll stand da mehrfach im vergangenen Jahr London gegen Bonn und Paris. Da stand aber auch Paris gegen Bonn. Ja, da fehlte es nicht an mehr oder minder offenkundigen Verstimmungen zwischen Rom und Washingto’n, Bonn und Washington … Nun. wir sind der Ueberzeugung, man soll diese Konflikte nicht übersehen, aber auch nicht falsch bewerten, sie gehören zum Lebensprozeß einer Partnerschaft, zum Wachsen unseres Weltkörpers, unseres Europa. Europa lebt! Und faltet sich wieder einmal im Eigenwuchs seiner Nationen aus. Sosehr ein falscher, gefährlicher Nationalismus immer zu fürchten und zu bekämpfen ist, so darf doch gerade heute das Kind nicht mit dem Bade ausgeschüttet werden. Die Völker Europas haben ihr eigenes spezifisches Gewicht, ja ihr Weltgewicht, und suchen es zur Geltung zu bringen. Es ist an sich ein Zeugnis von Vitalität, wenn da Engländer, Deutsche, Franzosen und Italiener miteinander auch streiten: Streiten i n einer großen Gemeinschaft, die denn doch Wirklichkeit geworden ist: eben unser Europa, das ein Erlahmen seiner Lebenskräfte anzeigen würde, wenn es sich zum Eintopf wandeln ließe.

Das ist die andere Seite der Welt in einer Wende: eine Fülle positiver Perspektiven, Wachstumsprozesse und Möglichkeiten. Eben diese Welt wird zu unserer Welt, wird von uns zuinnerst angeeignet, wenn beide Seiten. beide Gesichter gesehen und verantwortet werden: ihr Nachtgesicht und das Antlitz eines, jungen Tages, den Papst Johannes XXIII. in seiner Weihnachtsbotschaft anspricht, in seinem Appell an die Gläubigen: „Mögen sie alle ihre guten Absichten zur Heiligung des neuen Jahres stärken, damit es für die ganze Welt ein Jahr der Gerechtigkeit, des Segens, der Güte und des Friedens werde”.

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