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Weltgeschichte — ein Weltgericht

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World Copyright 1954 by „Die Oesterreichische Furche"

Als am 11. Juni 1903 mit der Ermordung des Sohnes König Milans, König Alexander, das Haus Obrenovic erlosch, hatten die Teilnehmer der Offiziersverschwörung die erste Etappe ihrer großserbischen Zielsetzung erreicht. Weggefegt war eine Dynastie, deren letzte Vertreter nicht nur die Achtung im Volke durch ihre Schwäche und ihr unwürdiges Privatleben verwirkt hatten. Viel Schlimmeres wurde ihnen von den Verschwörern angelastet: Sie waren zu Zeiten im Gefolge Oesterreichs gewesen und hatten das Land und sein Volk Rußland, dem großen Slawenprotektor, entfremdet. Petar Kara- georgjevic im königlichen Konak, daneben im Parlament und in den Regierungskanzleien die Radikale Partei unter Führung von Nikola Pasic, hinter ihnen die illegale, unheimliche organisierte Macht aus den Reihen der Armee, die um die Königsmörder geschart war — dieses neue Szenarium erwies sich bald in der praktischen Politik als eine Veränderung von größter Tragweite, zumal 1908, nach der Einverleibung Bosnien-Herzegowinas in den österreichisch-ungarischen Staat.

Ein unerwartetes Ereignis kam den großserbischen Bestrebungen zustatten. Die jungtürkische Liga hatte mit ihrer Revolution den Ballhausplatz vor eine komplizierte Situation gestellt. Sie hatte die konstitutionelle türkische Verfassung von 1876 wieder hergestellt, Parlamentswahlen in allen Provinzen des Ottomanischen Reiches angesagt und die Rückgabe der türkisdien Verwaltungsgebiete verlangt, die türkischer Admi nistration entzogen waren, also Bosnien- Herzegowinas, der beiden Provinzen, die der Berliner Vertrag unbefristet in die Hände Oesterreich-Ungarns als Okkupationsmacht gegeben hatte. Somit Rückgabe an die Türkei, die auf sie noch einen formalen Anspruch besaß. Oder ?

Die Alternative war kritisch. Der Wiederanschluß an die Türkei hätte zweifellos den Aufstand der christlichen Bevölkerungsmehrheit hervorgerufen. Die Uebergabe an Serbien, das in üppiger Propaganda völkisch begründete Anrechte auf diese Ländergebiete geltend machte, ließ dieselbe Reaktion bei der starken mohammedanischen Bevölkerung erwarten und auch den Widerspruch der Katholiken des Landes, wenn der stammesmäßige serbische Charakter von den großserbischen Wortführern auch noch so laut hinausgeschrien wurde. In Bosnien-Herzegowina war eben nicht nur ein nationaler Tatbestand zu berücksichtigen; viel stärkere als ethnologische Markierungen trennten die Bevölkerung der beiden Länder nach überlieferten kulturellen und religiösen, scharfbetonten Unterschieden in orthodoxe Christen, die sich als Serben bezeichneten, Katholiken, die, kulturell nach dem Westen orientiert, sich als Angehörige des kroatischen Volkes fühlten, und in die sehr bedeutende, streng abgeschlossene Volksgruppe islamitischen Glaubens und islamitischer Lebensform, die hier noch sehr kräftig erhalten war. Jede Veränderung des bisherigen politischen Rahmens hätte die schwersten inneren Konflikte in diesen Ländern unfehlbar auslösen müssen. Niemand durfte sich darüber einer Täuschung hingeben. Die Monarchie tat in dieser Lage das Nächstliegende: Sie verwandelte am 5. Oktober 1908 durch die Ausdehnung der Souveränitätsrechte Kaiser Franz Josephs auf Bosnien-Herzegowina die Okkupation in den einer staatsrechtlich eindeutigen Einverleibung. Dabei blieb der geltende Zustand äußerlich weiter bestehen. Das augenblickliche Echo aus dem orthodoxen serbischen Volksteil dieser Länder war geräusch voller Widerspruch und aus Serbien und Montenegro sofortige Drohung mit Waifen- erhebung und Krieg. Schon am 6. Oktober erfolgte in Serbien die Einberufung der Reservisten mehrerer Jahrgänge der Armee. Die Skupstina demonstrierte mit der Bewilligung außerordentlicher Rüstungskredite und der Aufstellung von Komitatschibanden zur Insurrektion der in die Monarchie aufgenommenen Gebiete. Und auch der König erhielt seine Rolle: am 7. Oktober abends hatte er seine Rückkehr vom Manöverfeld nach Belgrad zu vollziehen. Ueber jene Tage berichtet in seiner Meldung Legationssekretär Otto Franz aus Belgrad (Akt Nr. 165): „Bei der heutigen Volksversammlung waren zirka 10.000 Menschen, darunter viele Leute der besseren Stände, viele Bauern, auch Offiziere. Aemter und Schulen waren geschlossen, um Teilnahme zu ermöglichen. Von jeder Partei sprach ein Redner. Der eine versicherte, daß Montenegro den Bruderzwist vergessen habe und fieberhaft rüste, um mit Serbien zu marschieren, ein zweiter versicherte, daß ein bosnisch-herzegowinischer Aufstand unmittel bar bevorstehe, ebenso eine Revolution der Serben, Slowenen und Slowaken der Monarchie. Der Nationalist Gjorgevic sprach in seiner Rede Beschimpfungen gegen die Person Kaiser Franz Josephs aus. Nach der Versammlung formierte sich ein Zug zum Ministerium des Auswärtigen, wo ein Beschluß der abgehaltenen Versammlung für den Ministerpräsidenten abgegeben wurde. Der Beschluß besagte, daß jeder Serbe bereit sei, alle Opfer zu bringen, um die Annexion zu verhindern.“ Der Legationssekretär fügt seinem Berichte bei, bei dem gestrigen Kronrat habe Pasic und der Führer der Jungradikalen, Stojano- vic, nachdrücklichst den Krieg gegen die Monarchie verlangt.

Das war der Auftakt zu der sogenannten Annexionskrise und einem Paroxismus der Herausforderungen und Schmähungen Oesterreichs. Die Monarchie antwortete an ihren südöstlichen Grenzen mit militärischen Vorkehrungen, die nun jahrelang in wechselnden Phasen fortgesetzt werden mußten und der Monarchie eine Ausgabenlast aufbürdeten, die fast einem Kriegsaufwand gleichkam.

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