Wem die Bürgerwut entgegenschlägt

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In Lenins Geburtsstadt wird die Mehrheit der Bürger Putin wählen. Doch immer mehr Menschen lehnen ihn ab.

Auf dem Holztisch steht eine Nähmaschine, unter dem Bett eine eiserne Waschschüssel. "Hier ist er geboren. Am 22. April 1870“, sagt das Mütterchen und macht eine andächtige Pause. Er - der Schüler mit der Goldmedaille, der große Revolutionär, der der einstigen Zarenfestung aus dem 17. Jahrhundert nach seinem Tod den Namen gab: Wladimir Iljitsch Uljanow - Lenin.

Doch Lenin ist Vergangenheit. Ein Monumentalklotz im Zentrum von Uljanowsk erinnert noch an ihn. Die Gegenwart ist die bevorstehende Präsidentenwahl. Und die Zukunft? Sie liegt wohl in der Hand eines anderen Wladimir, Wladimir Putin. Daran zweifelt hier - rund 850 Kilometer östlich von Moskau - kaum jemand.

An verschneiten Wegen taucht hie und da ein Werbeplakat auf: für Putin - den Starken, für Prochorow - den Milliardär, für Sjuganow - den Kommunisten. Alle wollen sie ein "neues Russland“. Doch das vermeintlich Neue bleibt das bekannte Alte. Die Staatsspitze setzt auf antiamerikanische Rhetorik und macht Angst mit den Chaoszuständen in den wilden 90ern. Die Methode funktioniert. Putin ist nach wie vor der beliebteste Politiker im Land. Zudem hat er in den zwölf Jahren als Präsident und Premier alles dafür getan, um die politische Vielfalt zu ersticken. Jetzt aber schlägt ihm die Bürgerwut entgegen.

Unzufriedenheit

1500 Menschen kamen in Uljanowsk zur ersten Demonstration im Dezember. So viele wie seit 20 Jahren nicht mehr. "Du guckst dich um und staunst, wie viele wir mittlerweile geworden sind“, sagt Igor Toporkow, der all die oppositionelle Kraft in sich vereint. Er ist Menschenrechtler, Wahlbeobachter, Rechtsliberaler - und er ist "verdammt unzufrieden mit der Regierung“. Putin setze zu sehr auf Öl, meint der 46-Jährige. Den Sieg werde er dennoch davontragen, im ersten Wahlgang. Weil Putin alles getan habe, um keinen gleichwertigen Gegner aufkommen zu lassen, sieht Igor Toporkow keine Alternative zum jetzigen Premier.

"Es gibt einen Ausweg aus dem Ganzen - die Kommunisten“, sagt der 60-jährige Alexander Kruglikow, der schon zu Sowjetzeiten in der Partei von Lenin und Stalin mitmischte. Die Helden seiner Jugend begleiten ihn noch heute. Tatsächlich lag die kommunistische Partei (KPRF) in Uljanowsk bei der Parlamentswahl mit knapp 29 Prozent gleichauf mit "Einiges Russland“. Kruglikow stimmt das froh, aber auch nachdenklich. Schließlich hätten viele die KPRF nur aus Protest gewählt. "Die Menschen vertrauen Putin nicht mehr“, sagt er. "Uns aber auch nicht.“

Bürgersprechstunde

An der Leninstraße weht die Flagge der Kreml-Partei. Seit "Einiges Russland“ im rosa Steinhaus gegenüber der Synagoge ihre "Bürgersprechstunde“ eingerichtet hat, kommen die Menschen mit juristischen und materiellen Sorgen zur Vertretung ihres Hoffnungsträgers Putin. Auch Jewgeni Filimontschew hatte sich den Termin extra aufgeschrieben. Der Weg von seinem Dorf Tenkowka, 90 Kilometer von Uljanowsk entfernt, sei zwar weit. Doch nun sitzt er hier im braunen Kunstledersessel, über ihm lächelt Wladimir Putin von den Bildern an der Wand.

Der Pensionist ist gekommen, weil sein Gasanbieter ihm die Preise für den Sommer nicht neu berechnen will. Die Regierungspartei soll eingreifen. Letztes Jahr habe das auch funktioniert. "Wir werden sehen.“

"Ist doch gut, wenn die Menschen wissen, wer ihnen helfen kann“, sagt Wadim Andrejew, Leiter des regionalen Büros der Kreml-Partei.

Gleichzeitig ist der 30-Jährige auch für die städtische Wahlkommission zuständig. Einen Interessenskonflikt zu seinem Parteiposten sieht er dabei nicht.

An der Ecke Leninstraße/Sowjetstraße entsteht gerade das neue Büro von "Jabloko“ - der derzeit einzigen unumstritten liberalen Partei in Russland. Ihren Kandidaten Grigori Jawlinski hat die Zentrale Wahlkommission Russlands von den Wahlen ausgeschlossen. Ein Zeichen dafür, dass Jawlinski eine wahre Gefahr für Putin sei, meint Nikolai Kisliza. Der 54-Jährige sitzt zwischen Schrubbern und Plakaten, telefoniert herum.

Kisliza ist seit 40 Jahren in der Politik, seit Komsomol-Zeiten. Von den Kommunisten hält er aber nicht mehr viel: Sie hätten sich und die Partei nach dem Zerfall der Sowjetunion verraten. "Feiglinge“, sagt Kisliza. "Und genau so ein Feigling ist Putin jetzt.“

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