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Digital In Arbeit

Wenig Glaubenswerte mit Perspektiven

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Sozialdemokratie heute, das ist Sicherung des Wohlstandes, der „wohlerworbenen” Bechte der Arbeitnehmer, des Sozialstaates. Ist es auch noch eine Ideologie, die den Menschen freier machen soll? Von staatlicher Bevormundung, gesellschaftlichen Krusten, neuen Abhängigkeiten?

Die gesellschaftliche Struktur der ehemaligen Arbeiterklasse hat sich gewandelt. Aus ihr ist ein neuer Mittelstand geworden. Sein Anspruch heißt, am materiellen Wohlstand partizipieren, Freizeitgenuß und Individualität zu sichern. Verbunden soll das auch mit traditionellen Werten wie Familie werden. Die Sozialdemokratie versucht im staatlichen Rahmen, diese Ansprüche zu sichern. Das Problem: der Bürger hat sich daran gewöhnt und stellt diese Ansprüche an den Staat. Dieser wird zunehmend unfinanzierbar.

Gleichzeitig wehrt sich der Bürger gegen staatliche Bevormundung mit Staatsverdrossenheit. Sein innerer Widerspruch: der Staat soll Sicherheit und Ruhe bieten, ihn aber in Ruhe lassen. Es sei hier in den Raum gestellt, wer eigentlich diesen Widerspruch auflösen soll, der Bürger oder der Staat? Es sei auf andere Widersprüche verwiesen, im Spannungsfeld zwischen Wohlstand und sozialer Sicherheit einerseits und Werteverlust, Unzufriedenheit andererseits. Der knappe Arbeitsmarkt, verbunden mit den persönlichen Ansprüchen führt zu Konkurrenz. Wir leben in einer Wettbewerbsgesellschaft. Die Folge:

Arbeitsfreude wird zu Arbeitsfrust, als Äquivalent soll Freizeitgenuß, die Suche nach einer Freiheit, die möglichst grenzenlos sein soll, dienen. Ersatzhandlungen? Aber vor allem die jüngere Generation stößt an die Grenzen jedweden Wachstums, gleichzeitig gibt es keine neuen Glaubenswerte, die neue Perspektiven schaffen.

Aber spricht die Sozialdemokratie von einer begrenzten Welt? Ist ihr noch immer die Konsumideologie wichtiger (Opium des Volkes?), als ein ganzheitliches Menschenbild, das dem Vermögen des einzelnen in Mitverantwortung und Selbstentfaltung folgt? Konnten sich die Gewerkschaften vom Wachstumsdenken lösen? Worum kämpfen sie? Um Lohnerhöhungen und um Steuererhöhungen für Reiche. Wo bleiben die ideellen Werte? Besonders jenen, die im Wettbewerb zurückbleiben, scheinen ideelle Werte zu fehlen. Sie empfinden oft ihr Leben als sinnlos, zum Konsumgenuß fehlt ihnen das Geld, so suchen sie Halt bei neuen Autoritäten.

Das letzte Wahlergebnis zeigt, daß viele sozialdemokratische Wähler ins rechte Lager gewechselt sind. Nicht daß die Lösungskompetenz des Autoritären bewiesen wäre, aber gesellschaftliche Autorität vermittelt den Eindruck, daß das eigene Leben nicht Fron, Wettlauf, leere Enge ist, sondern einem höheren Halt dient. Diese Autorität läßt die regierende Sozialdemokratie vermissen. An ihrer Stelle steht bestenfalls Verbindlichkeit. Aber während die Politik am eigenen Widerspruch und dem der Lebenswirklichkeit krankt, versucht sie,

eine heile Welt zu versprechen, Heil anzubieten. Hat der Sozialismus so lange um das Ende jeder Not gekämpft, daß er heute das Problem nicht wahrhaben will? Nicht die von oben versprochene heile Welt wird das Problem lösen, da ist das private Heil der TV-Seifenoper allemal vielversprechender. Außerdem, wenn die Politik von materiellen Versprechen ausgeht, ideologiefern, politisch wenig definiert? Es geht um den Unterschied zwischen sinnvoll und sinnlos, richtig und falsch, sagen wir ruhig gut und böse, den die Politik für den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang auszusprechen hat.

Viel ist heute von den Auswüchsen des Individualismus die Bede, aber muß erst nicht erst die heilige Kuh Kollektivdenken, Kollektivbewußtsein, heute leere linke Begriffe, geschlachtet werden und an ihre Stelle die Eigenverantwortung des einzelnen treten, die ihn erst zu Solidarität befähigt? Damit er nicht Stimmvieh ist? Es geht um Selbstgestaltung. Keine Lohnerhöhung, keine ,einkom-mensneutrale' Steuerreform kann dem Arbeitenden das Gefühl geben, ein schönes, brauchbares Produkt hergestellt zu haben. Keine Politik kann dem einzelnen jene Liebe geben, die er im Privaten findet. Eine falsche politische Heilsromantik ist fehl am Platz.

Die Sozialdemokratie steht in einem Lernprozeß, der die gesamte Politik betrifft. Es wird sich herausstellen, ob sie ihn bewältigt.

Analysen über die Grünen und das Liberale Forum folgen.

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