Wenzel und Michel schreiben ein Buch

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Das lang ersehnte österreichisch-tschechische Geschichtsbuch ist endlich  erschienen. Es könnte zu dieser Thematik eine Grundlage für Generationen werden.

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Das lang ersehnte österreichisch-tschechische Geschichtsbuch ist endlich  erschienen. Es könnte zu dieser Thematik eine Grundlage für Generationen werden.

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Wer zu diesem Buch greift, braucht starke Arme, aber auch inhaltlich hat es Gewicht. Noch nie sind die österreichisch-tschechischen Beziehungen so umfassend, umsichtig und vor allem durchgehend bilateral dargestellt worden. Denn sämtliche Beiträge wurden jeweils von Angehörigen beider Nationalitäten verfasst, und es lässt sich höchstens erahnen, welcher Satz von österreichischer und welcher von tschechischer Seite stammt. Zu Konflikten bezüglich der Sichtweisen sei es sehr wohl gekommen, zu Zerwürfnissen aber nicht, so der erstgenannte Herausgeber Niklas Perzi bei der Präsentation des Buches in St. Pölten. Was die Schreibenden der his torischen Zunft zusammengehalten hat, war die seit dem Ende der kommunistischen Indoktrinierung und dem Verblassen nationalistischer Erzählungen gemeinsame Methode.

Eine vermeintlich unantastbare Tatsachengeschichte ist heute nicht mehr vertretbar, und nicht nur die Fakten, sondern auch deren Interpretationen werden bewusst in Frage gestellt. Am deutlichsten wird dies bei der Vertreibung der Sudetendeutschen nach dem Zweiten Weltkrieg. Zu fragen sei, wann die Darstellung ansetzt, wie sie die Teilaspekte gewichtet und in welchen zeitgenössischen Horizont sie hineingestellt ist. Während die Tschechen Jahrhunderte zurückgreifen und ihre 1918 endlich errungene Emanzipation durch das Dritte Reich bedroht sehen, blenden die Deutschen die vielfach mit ihrer Billigung geschehene Knebelung der tschechischen Landsleute von 1939 bis 1945 gern aus und sehen sich schon seit 1918 nur als Opfer.

Beneš und Temelín

Symbol dieses Dilemmas ist Edvard Beneš, für die einen der Deutschenhasser schlechthin, für die anderen der Repräsentant eines modernen demokratischen Staates, dessen Stabilität durch die Ausweisung der Deutschen nach so vielen Niederlagen ein für alle Mal gesichert werden soll. Brandgefährlich wird die Sache, wenn sie mit anderen, ebenfalls hochexplosiven Materien verbunden wird, etwa mit der Errichtung und dem Betrieb von Atomkraftwerken. Und natürlich ist es von größter Bedeutung, wer die Argumente wann vorbringt – etwa wenn Jörg Haiders FPÖ die Beneš-Dekrete mit Tschechiens EU-Beitritt junktimiert. Einer der zahllosen bedenkenswerten Sätze des Buches, hier in Walter Reichels und Václav Petrboks Analyse von „Stereotypen und Narrativen in der tschechisch-österreichischen Wahrnehmung“, kommentiert das so: „Das bisherige Desinteresse der österreichischen Öffentlichkeit an der tschechoslowakischen Nachkriegsgeschichte führte in weiterer Folge zur unreflektierten Übernahme des sudetendeutschen Narrativs, das wiederum durch auflagenstarke Massenmedien weite Verbreitung fand.“

Die Aufarbeitung der vielen „Stunden da wir nichts voneinander wussten“ (um einen Stücktitel Peter Handkes aufzugreifen) ist ein zentrales Anliegen des Buches. Ein Jahrzehnt hat es gebraucht, bis die Idee realisiert werden konnte. Zwei Landesausstellungen in Nieder- und Oberösterreich hatten die Öffentlichkeit für die Thematik sensibilisiert, doch lagen deren Schwerpunkte dann doch wieder in Österreich und dienten nicht zuletzt der Profilierung der Landesfürsten. Das jetzt vorliegende Sammelwerk hingegen verdankt sich stärker Impulsen von unten. Die Historiker beider Länder waren schon seit der Wende (und ansatzweise bereits vorher) vernetzt, und Vorarbeiten waren insbesondere in den Grenzregionen geleistet worden, nicht zuletzt mit Hilfe der Oral History, die nicht bloß subjektive Erinnerungen aufzeichnet, sondern auch strukturierte Gespräche mit Interventionen der Fragesteller.

Die Errichtung und der Abbau des Eisernen Vorhangs erscheinen so nicht nur als punktuelle Ereignisse, sondern sind eingebettet in das sich wandelnde Alltagsleben diesseits und jenseits der Grenze. Spannende Details sind dabei zu erfahren – wie die Besiedlung der bis dahin deutschen Gebiete auch durch Slowaken aus Rumänien sowie Griechen, die vor der Hellenischen Revolution von 1946 bis 1949 geflohen waren, oder das Aufleben der Katholischen Jugend an der hermetisch abgeriegelten Grenze im Wald- und Weinviertel. Und nicht nur die Sozial-, auch die Wirtschaftsgeschichte der österreichischen Grenzregionen hat seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ein bemerkenswertes Auf und Ab erlebt. Die tschechische Version des Buches soll ebenfalls noch heuer erscheinen, und an der exzellenten Bebilderung darf sich dann nach dem deutschen Michel auch der tschechische Wenzel ergötzen. Ein Buch aus der „Bibliothek der Provinz“ in Weitra, gedruckt in der Europäischen Union: manchmal sagt auch das Impressum etwas über den Inhalt aus.

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