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Wer hat wen gewählt?

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Der Wahlkampf liegt hinter uns, die Wahlresultate stehen fest. Man könnte also einen dicken Schlußstrich unter die Wahlresultate ziehen und sich nicht mehr um das Wieso, Warum und Woher kümmern. Doch gerade bei dieser „Entscheidungswahl” wird man gut daran tun, auch außerhalb der Parteisekretariate die Wahlergebnisse zu analysieren — und mit aller geziemenden Behutsamkeit von den trockenen Zahlen und Tatsachen auf Gedanken, Emotionen und Motivierungen zu schließen.

Als Ausgangsposition wollen wir die Ergebnisse der Wahlen zum Nationalrat 1962 rekapitulieren: die Zahl der Wahlberechtigten betrug damals 4,80 Millionen, die der abgegebenen Stimmen 4,46 Millionen. Durch Bevölkerungszuwachs urid Änderungen innerhalb der Bevölkerungsstruktur lag heuer die Zahl der Wahlberechtigten um knapp zwei Prozent höher (4,89 Millionen), die der abgegebenen gültigen Stimmen ebenfalls um etwa zwei Prozent (4,53 Millionen). Wir müssen daher, um absolute Zahlenvergleiche anstellen zu können, die Ziffern von 1962 zunächst generell um etwa zwei Prozent „aufwerten” und erhalten dann die Ausgangsbasis 1962 wie folgt: ÖVP 2,06 Millionen, SPÖ 2,0 Millionen, FPÖ 0,32 Millionen, KLS 0,14 Millionen.

Das Wahlergebnis 1966 lautet: ÖVP 2,19 Millionen, SPÖ 1,93 Millionen, FPÖ 0,24 Millionen, DFP 0,15 Millionen, für die KLS gibt es keine Vergleichszahl auf Bundesebene. Aber gerade mit der KLS müssen wir die Analyse beginnen, denn hier haben wir eine verhältnismäßig leicht durchschaubare Situation vor uns.

Die Kommunisten gaben ihren Wählern die Empfehlung, in 24 Wahlkreisen für die SPÖ zu stimmen; im Wahlkreis 4 (Wien- Nordost) kandidierte eine eigene KLS-Liste. Diese Liste, deren Aufgabe es war, wenigstens einen Kommunisten ins Parlament zu bringen und damit der SPÖ die Bedeutung der kommunistischen Wähler stimmen besonders deutlich zu machen, erhielt 18.638 von 232.079 gültigen Stimmen gegenüber 21.091 von 222.748 gültigen Stimmen im Jahre 1962. Die Kommunisten verzeich- neten somit einen absoluten Stimmenschwund von mehr als elf Prozent, unter Berücksichtigung der größeren Wählerzahl sogar einen noch höheren.

Wir dürfen also wohl von der Annahme ausgehen, daß das kommunistische Wählerpotential in Österreich seit dem Jahre 1962 erneut um rund zwölf Prozent geschmolzen ist und wir ziehen von unserer aufgewerteten Ausgangsbasis 1962 zwölf Prozent der 140.000 Stimmen ab und erhalten damit knapp 125.000 potentielle KP-Wähler. Von diesen haben 18.638 KLS und rund fünfhundert „Marxisten-Leninisten” gewählt, es verbleiben somit 106.000 Stimmen. Wo sind die hingekommen?

Die Wahlempfehlung lautete: SPÖ wählen, und kommunistische Wähler’ neigen zum Gehorsam. Außerdem: wohin hätte der listenlos gewordene KP-Wähler in Wiener Neustadt, in Donawitz oder in Ottakring wechseln 1 sollen? Etwa zur ÖVP, dem Inbe-’ griff des Klassengegners? Oder zur deutschnationalen FPÖ? Oder zur DFP, deren Führer mit schärfstem Nachdruck den Antikommunismus propagierte? Die Antwort ist klar. Oder wurde ungültig gewählt oder Wahlenthaltung geübt? Die Vergleichzahlen lassen auch das als • ausgeschlossen erscheinen und wir können geradezu zwingend folgerp, daß in Österreich, 1966, rund 100.000 KP-Stimmen für die SPÖ abgegeben wurden.. .

Diese 100.000 Stimmen müssen wir, um die Analyse weiterzuführen, von den 1,93 Millionen für die SPÖ abgegebenen Stimmen abziehen und erhalten damit nur noch 1,83 Millionen sozialistischer SPÖ-Stimmen und damit einen Schwund von 170.0 SP-Stimmen. Wo sind nun diese Stimmen hingegangen?

Die simpelste Antwort würde lauten: zu Olah; Olah hat fast 150.0 Stimmen erzielt, und das entspricht beinahe dem Manko von 170.0 Stimmen. Zweifellos stammt ein erheblicher Teil der DFP-Stim- men aus dem Reservoir der SP- Wähler von 1962, aber in Anbetracht der extrem scharfen Auseinandersetzungen zwischen der DFP und der Parteispitze der SPÖ (und der Leitung des Gewerkschaftsbundes) kann man wohl schließen, daß es keineswegs nur sozialistische Stammwähler waren, die sich diesmal für die DFP entschieden; es waren wohl eher Randschichten, die sich weder für die ÖVP noch für die FPÖ entschließen konnten, ohne dieses Olah-Ventil aber vermutlich der SPÖ zumindest zum Teil ebenfalls verlorengegangen wären.

Aber wenden wir uns zunächst der FPÖ zu. Sie hat nahezu ein Viertel ihrer Stimmen eingebüßt: 242.000 Stimmen gegenüber unserer Vergleichsbasis von 320.000. Dabei hielten sich die Verluste in ihren Stammgebieten in bescheidenen Grenzen: in Salzburg und Kärnten wurden die beiden Grundmandate mühelos erreicht, die Stimmenzahl ging — absolut und auch relativ — nur wenig zurück. Ganz anders war es in Wien und Ndederösterreich, wo die Stimmeozählen zuweilen beinahe halbiert wurde — besonders in den „bürgerlichen” Wiener Wahlkreisen 1, 2 und 3, wobei die ÖVP in zweien dieser Wahlkreise je ein Grundman- dat gewann.

Audi Mer wäre es voreilig, au schließen, daß die der FPÖ fehlenden Stimmen en bloc zur ÖVP gegangen sind — ganz abgesehen davon, daß das Manko nur 80.000, der ÖVP-Zu- gang aber 130.000 Stimmen (schon mit Berücksichtigung der höheren Wähierzahl) betrug. Es ist gewiß kein purer Zufall, daß gerade in jenen Wahlkreisen, in denen Olahs DFP erstaunlich gut abschnitt, die Zahl der freiheitlichen Wähler besonders stark zurückgeganigen ist: in allen Wiener Wahlkreisen, aber auch in Niederösterreich. Gegenprobe: im Süden und Westen hielt die FPÖ

ihre Positionen — und die DFP- Stimmen sind minimal.

Wenn wir aber auf Grund dieser Erwägung annehmen, daß auch nur ein Drittel der DFP-Stimmen sich aus FPÖ-Wählern des Jahres 1962 rekrutiert, dann muß der Zugang an ÖVP-Wählern aus anderen Lagern, als dem der Freiheitlichen, weit mehr als die soeben errechneten 50.0 betragen. Wenn von der FPÖ ein Drittel der fehlenden Stimmen — das ist ein Drittel von 80.000, gleich 27.000 — an die DFP gegangen ist und einige weitere Tausend, vor die „Entscheidungswahl” gestellt, sich für die Sozialisten entschieden (zehn Prozent oder 8000 dürfte eher zu niedrig sein), so müssen diese insgesamt 35.000 Stimmen der ÖVP von anderswo zugewachsen sein. Der ÖVP-Gewinn übertraf aber den FPÖ-Verlust ohnehin schon um 50.0 Stimmen; addieren wir nun die 35.000 weiteren Stimmen hinzu und bedenken wir ferner, daß der ÖVP allermindestens 15.000 Stimmen an die DFP verloren gegangen sind, so beträgt der Nettogewinn, den die ÖVP auf Kosten anderer Parteien als der FPÖ erzielt hat, rund hunderttausend Stimmen.

„Andere Parteien als die FPÖ”, heißt aber zwangsläufig SPÖ, denn die DFP hatte ja nur au nehmen, aber nicht zu geben, und daß die 100.0 heimatlosen Kommunisten ÖVP wählten, ist selbst als dummer Witz zu dumm. Nein, die 100.000 Stimmen kommen von sozialistischen Wählern des Jahres 1962, was man natürlich nicht wörtlich nehmen darf, da alte Wähler wegstarben, Jungwähler hinzukamen. (PS: Es sind nicht bloß die Jungwähler, die der ÖVP zur absoluten Mehrheit im Nationalrat verholfen haben — die großen Gewinne kommen aus dem „überalterten, roten” Wien! In an deren Wahlkreisen entsprachen die ÖVP-Gewinne oft nur der natürlichen Bevölkerungsvermehrung oder lagen geringfügig darüber.)

Warum hat nun die SPÖ mindestens 100.000 sozialistischer Wähler an die ÖVP verloren und fast ebenso- viele an die DFP? Diesmal scheint der naheliegende Schluß auch der richtige zu sein: weil sie 100.000 KP- Stimmen zu gewinnen hoffte. Diese Rechnung ist nicht aufgegangen, die Öffnung nach ganz links erwies sich als Fehlschlag. Dazu kamen regionale Ressentiments — erwartungsgemäß besonders deutlich in Vorarlberg.

Dagegen waren die gewaltigen Verluste im Zentrum der sozialistischen Macht, in der Bundeshauptstadt Wien, für die SPÖ zweifellos ein unerwarteter und um so heftigerer Schlag. Hier wurde eine Malaise deutlich, die auch mit der Strukturveränderung des sozialistischen „Normalwählers” zu tun haben mag. Mit Wählern, die beim nächsten Mal nicht lange zögern werden, ihre kostbare Stimme den Sozialisten zu geben, wenn die Sozialisten für sie wieder wählbar geworden sind, und wenn sie von der diesmaligen Partei Ihrer Wahl enttäuscht werden sollten.

Die ÖVP, die vor wenigen Monaten noch dieser Wahl mit gemischten Gefühlen entgegensah, sieht sich nun im Besitz einer absoluten Mehrheit im Nationalrat und sie verfügt über elf Mandate Vorsprung gegenüber jener Partei, die den Bundeskanzlersessel schon in Reichweite glaubte. Ein solcher Sieg könnte jenen Sinn für die Realitäten vergessen lassen, der diesmal der SPÖ gefehlt hat. Die Rechnung für eine solche Fehleinschätzung aber würde unweigerlich präsentiert werden — spätestens im Jahre 1970.

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