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Wer kontrolliert in Österreich?

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„Nicht was wir gestern waren, sondern was wir morgen zusammen sein werden, vereinigt uns zum Staat” (Ortega y Gasset).

Die-Suche nach Wegen zur Beschränkung der Macht durchzieht wie ein roter Faden die Geschichte des Staates. Solange Freiheit und Gerechtigkeit die Ziele des politischen Gemeinwesens sind, wird diese Suche andauem. Der Zugang zur Macht steht im demokratischen Rechtsstaat kaum noch zur Debatte. Ihn - bewegt mehr und mehr die Frage der Kontrolle. Sie ist die Lebensfrage jedes Gemeinwesens das sich als Demokratie und Rechtsstaat begreift. Sie ist auch die Schicksalsfrage der österreichischen Demokratie.

Die wirksamste Methode der Kontrolle des politischen Machtprozesses im demokratischen Staat wird in der konstruktiven parlamentarischen Opposition erblickt. Das parlamentarische Regime im Sinne des englischen Modells ist dadurch charakterisiert, daß die Opposition eine Institution der Verfassung ist und daß die Wahlen der Schiedsspruch des Wählervolkes zwischen der Politik, der Regierung und der von der Opposition vertretenen Alternative sind. Die Angst der Regierungspartei, von der Opposition abgelöst zu werden und die Hoffnung der Oppositionspartei, Regierung zu werden, sind die Triebkräfte der Politik. Die Institutionalisierung der Opposition wurde oft als Domestikation der Revolution bezeichnet. Das System des Wechsels der Parteien in der Funktion von Regierung und Opposition kommt in der Tat jenem Bedürfnis entgegen, das jeder — naturgemäß von der Herrschaft ausgeschlossenen — beherrschten Majorität innewohnt: dem Bedürfnis, gegen den aus dem gegebenen politischen Zustand sich ergebenden Zwang zu protestieren. In dieser Reaktion gegen den fremden Willen, dem sich der eigene beugen muß, liegt ja nach Kelsen eine Wurzel der Idee der Demokratie überhaupt. Die institutionalisierte Opposition ist ein Ventil für den Widerstand gegen den jeweiligen Inhaber der Macht. Dies erklärt einerseits die Vitalität und anderseits auch die Stabilität der englischen Demokratie. Lebens- und Leistungskraft dieses Regimes faszinieren. Es scheint die beste Antwort auf die ewige Frage: Quis custodiet custodes? zu sein.

Die Funktionen der Opposition sind stete Kontrolle und Kritik der Regierung, verbunden mit ständiger Vorbereitung zur Übernahme der Führung. Die Regierungspartei muß stets mit der Ablöse rechnen und darnach ihre Politik orientieren.

Die Oppositionspartei als Minorität tritt als Anwalt möglichst vieler Interessengruppen auf und bietet Alternativen zur Politik der Majorität Sie ist das „Gewissen der Nation”, das „Sprachrohr der öffentlichen Meinung”. Sie übt teils einen hemmenden und mäßigenden, teils einen treibenden und beschleunigenden Einfluß auf die Politik der führenden Mehrheitspartei aus. Sobald sie aber zur Majorität wird, übernimmt sie Führung und Verantwortung. Für die jeweilige Minorität gilt der Satz: In Bereitschaft sein ist alles 1

Der Zwang zur Loyalität

Die vorbeugende und erzieherische Wirkung diesės politischen Kampfspieles liegt auf der Hand. Dem Wählervolk, das vor einem Entweder-Oder steht, wird eine aktive und verantwortungsvolle Rolle im politischen Machtprozeß zugewiesen, die Funktion eines Schiedsrichters. Es hat die Entscheidung über konkurrierende Führungsansprüche zweier Machtprätendenten zu fällen. Es kann sjch jeweils mit Alternativen identifizieren. Die Parteien sind gezwungen, mit „Maß und Ziel” zu handeln, sich stets mit dem Staatsganzen zu identifizieren. Diese Loyalität ,?um Staat bedeutet gleichzeitig eine stillschweigende Solidarität der staatstragenden Parteien in bezug auf die Grundfragen der politischen Ordnung und grundsätzliches Vertrauen zueinander. Jede Partei hält sich an die Spielregeln, die allen ihre Existenz ermöglichen. „Der ideologische Unterschied und , der Unterschied in der gesellschaftlichen Grundlage verhindern nicht das Zusammenbestehen der Parteien. So erhält die Opposition eine Substanz und eine Identität… Dadurch, daß keine Partei nach Alleinherrschaft und Totalität strebt, ist die Beständigkeit der politischen Verfassung gesichert” (Duverger). Bei aller Faszination dürfen nicht die rechtlichen und realen Voraussetzungen dieses Regimes übersehen werden: Einfache Mehrheitswahl, jahrhundertealte Gewohnheit des Zweiparteiensystems, demokratische Tradition usw.

Regieren heißt Gewalten teilen

Geht man vom englischen Modell aus, so erscheint das österreichische Koalitionsregime als Paradoxon: Regierung und Opposition sind identisch. Man spricht von der „Regierungspraxis des Koalitionspaktes mit eingebautem Oppositionsmechanismus”. Das Volk entscheidet bei der Wahl nicht über ein politisches „Entweder-Oder”, sondern es stimmt einem politischen „Sowohl-Als-auch” zu. Die Alternative fehlt. Damit nähert sich die Wahl eher einem plebiszitären Verfahren wie es in autoritären Regimes üblich ist; es handelt sich aber nicht — wie in diesen — um ein Plebiszit für eine Person oder eine Partei, sondern um ein Plebiszit für eine spezifische Technik des Regierens. Die Wahl bedingt nicht die Art des Verhältnisses von Regierung und Opposition, sondern die Art und Weise der Zusammenarbeit und die Art und Weise der Verteilung der Machtpositionen. Kurz; Die Proportionen ändern sich, der Proporz bleibt. „Es ist in Österreich gelungen, ein politisches System zu erfinden, in dem zwei Parteien dauernd miteinander in Koalition und trotzdem dauernd in Wettstreit sind. Jede ist nämlich gleichzeitig Regierungs- und Oppositionspartei” (Friedrich Scheu). Jede der beiden Parteien ist Opposition für den Bereich, den die andere beherrscht. Diese Formel der sogenannten Bereichsopposition ist der Versuch einer Neugestaltung der Dualstruktur der Staatlichkeit.

Durch die Aufspaltung des Staates in Sektoren erhalten die Parteien spezifische Regierungs- und Oppositionskompetenzen und halten sich in Kontrolle und Schranken. Während in der Ersten Republik die eine Hauptpartei prinzipiell das Regierungs- und Verwaltungsmonopol innehatte und sich im Parlament im wesentlichen der anderen Hauptpartei, die das Monopol der parlamentarischen Opposition aus Prinzip innehatte, zu stellen hatte, besteht nunmehr auf Grund des Parteienkartells sowohl ein Regierungs- und Verwaltungsdiopol als auch ein parlamentarisches Diopol. Die parlamentarischen Aktionen dienen der Durchführung der für die verschiedenen Gebiete der Staatstätigkeit festgelegten Grundentscheidungen. Die verschiedenen Gebiete der Verwaltungstätigkeit, also Wirtschaftsverwaltung, Sozialverwaltung, Kulturverwaltung, Polizeiverwaltung, Heeresverwaltung, Verwaltung des Inneren und Äußeren usw. werden auf die beiden Großparteien aufgeteilt. Auf Grund des Parteienkartells kommt es so zu einer Art von Gewaltenteilung im Sinne einer Spezialisierung. Dabei haben die Parteien einen faktisch-politischen „Anspruch” auf bestimmte Ressorts erlangt und dort ihre Einflußsphäre ausgebaut, sei es durch Verpartei- lichung der Bürokratie oder durch deren Entmachtung. So steht dem Wirtschaftsressort (Finanzen, Handel, Landwirtschaft) das Sozialressort gegenüber, dem Polizei- und Justizressort das Kulturressort, dem Ressort des Äußeren das Ressort der Landesverteidigung usw. gegenüber. Diese Aufteilung der Ressorts entspricht im wesentlichen den Interessenvertretungen, die hinter den Parteien stehen. Duverger schreibt: „Jede Partei der Regierungskoalition möchte ein Tätigkeitsgebiet in Anspruch nehmen, auf dem sie ihre Wähler befriedigen und ihre politische Strategie entfalten kann. Aber diese Spezialisierung findet nicht immer statt. Manche Regierungskoalitionen wenden eine Taktik der Neutralisierung an, indem sich ergänzende Ministerien an verschiedene Parteien vergeben werden, um die Politik eines Ministers durch die des anderen, die ihm entgegengesetzt ist, in Schach zu halten. Oder man gibt einem Minister einen Staatssekretär der anderen Partei zur Seite, der ihn überwacht und einschränkt.”

Innere und äußere Opposition

Zur „inneren” Opposition stellt Duverger fest: „Die Entscheidungen der Regierung .sind, das . Ergebnis eines Kompromisses zwischen den Koalitionsparteien. Jede von ihnen behält sich aber das Recht vor, ihren eigenen Gesichtspunkt vor ihren Anhängern und Wählern zu verteidigen, also den Regierungskompromiß zu kritisieren und die Verantwortung für ihr eigenes Versagen auf die Verbündeten abzuwälzen. So macht jeder Koalitionspartner Opposition gegen seine eigene Regierung. Die ganze Taktik dieser inneren Opposition besteht darin, zwischen den unmittelbar praktischen Notwendigkeiten und den grundsätzlichen Reformen auf lange Sicht, die aus der Parteiideologie hervorgehen, zu unterscheiden. Indem man sich auf die srstere beruft, rechtfertigt man seine Teilnahme an der Regierung, und man kritisiert dieselbe Regierung om Standpunkt der letzteren aus. So wird die innere Opposition um so leichter und wirksamer sein, je einheitlicher und je revolutionärer die Parteiideologie ist, also nicht den Eindrude erwecken kann, daß sie nur ein Vorwand sei, um die Beteiligung an der Regierung zu entschuldigen.” Die einfache Mehrheitswahl fördert nach Duverger den Parteiendualismus. Das Proportionalwahlsystem tendiert dagegen zum Vielparteiensystem und zu Koalitionsregierungen. In Österreich ist auf Grund verschiedener historisch-politischer und wirtschaftlich-sozialer Gründe ein Trend zum Zwei parteiensystem gegeben; zugleich aber ermöglicht und verwirklicht das Proportionalwahlsystem ein Mehrparteiensystem. Die spezifische politische Situation, daß zwei mächtige Hauptparteien schwachen Nebenparteien gegenüberstehen, stört das an sich eher labile Gleichgewicht: Zur inneren Opposition kommt noch eine äußere durch die Nebenparteien. Das kann zu einer Schaukelpolitik der Koalitionspartner führen. Auf Dauer werden Regierungsbündnisse geschlossen, um das Machtdiopol zu garantieren, ad hoc zusätzliche Wahl, oder parlamentarische Bündnisse. Ein Bruch der Koalitionsvereinbarung vermag nur faktischpolitische, keine Rechtsfolgen nach sich zu ziehen. Es ist daher ein Frage der politischen Strategie, welche Haltung zu Nebenparteien eingenommen wird.

Legitimation der Koalition

Da die Anhänger der Nebenparteien potentielle Stimmen für die Hauptparteien darstellen, gravitieren diese am Anfang und am Ende der Legislaturperiode „zentrifugal” zu demagogisch-extremen, militantradikalen Verhaltensweisen, verändern aber im Laufe der Legislaturperiode ihre Taktik aus Gründen der Machträson im Sinne einer Bewegung zur Mitte, werden sachlich, kompromißbereit, gemäßigt. In dieser maßvollen Zeit wird versucht, die Probleme auf rationalem Weg zu bewältigen. Die legislativen und administrativen Mittel stehen dazu in vollem Umfang zur Verfügung; auch Verfassungsgesetze sind möglich. In der Effizienz dieser Zusammenarbeit und in der grundsätzlichen Garantie politischer Stabilität und sozialen Friedens liegt die letzte staatspolitische Rechtfertigung der Koalition. Unter diesem Gesichtspunkt haben wohl auch Wähler und Bundespräsidenten das Koalitionsregime bejaht; das Wahlvolk bei der Bestellung des Parlaments, der Bundespräsident bei der Bestellung der Regierung.

Geht man davon aus, daß die Koalition als dauerhaftes Parteienkartell und ausgerüstet mit eigener Organisation die Trägerin der politischen Grundentscheidungen und deren Ausführung ist, so erhebt sich die Frage nach der Kontrolle dieser Akte durch selbständige und unabhängige Institutionen. Diese erfahren in der Koalitionsdemokratie eine Wertpotenzierung. Solange politische Grundentscheidungen und ihre Kontrolle und Kritik von verschiedenen Institutionen getragen werden, solange besteht lebendige Demokratie. Mit dem Abbau von unabhängiger Kontrolle und Kritik beginnt das Ende demokratischen Lebens.

Die Koalition ab „Uberpartei” und der Richterstaat

Soweit es sich um Staatsakte handelt, erweist sich Österreich nach einem Wort von Renė Marcic als Musterland der Rechtskontrolle. Er führt als Sicherungen vor Exzessen der Koalitionsdemokratie insbesondere an: Die Verfassungsgerichtsbar keit, die die Rechtmäßigkeit des Zustandekommens der Gesetze und der Verordnungen verbürgt, für einwandfreie Wahlen sorgt, über die Grundrechte wacht; die Verwaltungsgerichtsbarkeit, die die Gesetzmäßigkeit der staatlichen Verwaltung prüft; die Amtshaftung. — Ein bescheidenes Ventil politischen Widerstandes bilden die plebiszitären Institutionen. Der Träger der politischen Kritik ist die Presse. Die parteiungebundene Presse ist das wachste Gewissen der res publica. Sie nimmt nach Marcic „auf die Koalition einen korrigierend- kontrollierenden Einfluß”.

Die Koalitionsparteien als Wahrer der Staatsautorität

Man mag die Entwicklung Österreichs zur Koalitionsdemokratie beklagen, man mag sie mit dem Hegel- Wort verteidigen, daß alles Wirkliche vernünftig ist. Festzustellen ist, daß diese Entwicklung eine Folge der spezifischen historischen und politischen Lage Österreichs und auch eine Folge der verfassungsrechtlichen Situation unseres Landes ist. Die Großparteien haben den Staat in Bewegung gesetzt und gehalten. Im großen und ganzen verhielten sie sich verfassungskonform. Die pluralistische Gesellschaft der Verbände .’-und Daseinsvorsorgeorganisationen “hat keine neue Verfassungsgestaltung hervorgebracht, wohl aber vom Koalitionsregime profitiert. Das Regime der beiden Großparteien hat letzten Endes den Staat, der als Ordnungsidee und Organisationseinheit immer mehr zu zerfallen droht, in Verfassung und Form gehalten. In diesem Sinne ist Otto Kirchheimer zuzustimmen, der dieses Regime als Versuch betrachtet, einen „Teil des überkommenen Verfassungsgutes in eine Zeit hinüberzuretten, in der die politische Doktrin in die Gefahr gerät, sich entweder durch den Versuch der totalen Umwälzung der politischen und sozialen Verhältnisse zu übernehmen, oder auf die Stufe eines relativ harmlosen Aushängeschildes für Interessenvertretungen herabzusinken”.

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