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Nach der langen Ungewißheit über den Termin einer Neuwahl in Großbritannien hat die Entscheidung Mr. Wilsons für den 31. März allgemein ein Gefühl der Erleichterung hervorgerufen. Seitdem dieses Datum feststand — also seit Anfang März —, hat der Wahlkampf an Heftigkeit zugenommen und nunmehr seinen Höhepunkt erreicht. Was die Parteien zu sagen hatten, haben sie in vielen unterschiedlichen Schattie rungen gesagt; falls nicht eine unerwartete außenpolitische Wendung neuen Zündstoff liefert, werden die Politiker in den nächsten Tagen nur ihre schon bekannten Slogans an die Wähler heranzubringen suchen.

Gleiche Antworten

Diese Aufgabe fällt den Rednern der Regierungspartei und der konservativen Opposition nicht leicht. Die Sozialisten haben die Hypothek zu tragen, daß sie nach zwölfjähriger Gelegenheit zu einer gründlichen Fahndung nach den wirklichen Schwierigkeiten Großbritanniens doch nur wieder „Stop-and-go”-Poli- tik betrieben; die Tories wiederum haben es schwer, den Vorwurf, sie hätten das Land in einer wirtschaftspolitisch ausweglosen Lage übergeben, glaubhaft zurückzuweisen. Immerhin genießen die Sozialisten den Vorteil, daß sie erst etwas mehr als eineinhalb Jahre die Regierung stellen und in dieser Zeit vollauf mh Fragen des Tages in Anspruch genommen waren; es habe keinen Spielraum für langfristig wirkende Maßnahmen gegeben. Außerdem unterscheiden sich die Programme der beiden großen Parteien nur in wenigen Gebieten, weshalb es den Politikern kaum möglich ist, den Wählern einzuhämmem, sie müßten diese oder jene Partei wählen, wenn sie ein nationales Unglück verhindern wollen.

Wie schwierig ein solches Unterfangen sein dürfte, kann ein Außenstehender kaum ermessen. Man schätzt, daß die beiden großen Parteien auf etwa 80 Prozent der Fragen die gleichen Antworten haben. Sowohl die Arbeiterpartei als auch die Tories möchten eine Kommission für Raumordnung, wollen die Hafenanlagen modernisieren, eine bessere Polizei schaffen usw. Auch in den restlichen 20 Prozent haben sich die Standpunkte angenähert, wenngleich die beiden Rivalen in den einzelnen Streitfällen auf verschiedene Gesichtspunkte besonderen Nachdruck legen.

Scheideweg: Die Wirtschaft

Wohl die größten Unterschiede bestehen nach wie vor in wirtschaftspolitischen Fragen. Die Konservativen betonen die Wichtigkeit der privaten Initiative, die durch steuerliche Maßnahmen angeregt werden müsse. Nur eine Wirtschaft, in der der einzelne wach und rege ist und in der sein Interesse nicht vom Staat bestraft würde, könne auf lange Sicht dynamisch sein. Und nur in einer wachsenden Wirtschaft, darin ist man sich einig, könnten die vielen Probleme gedöst werden. Hingegen unterstreicht der Wahlaufruf der Sozialisten die Vorrangigkeit der Planung, der Ausgaben und der Subventionen durch den Staat. Die Verstaatlichung der Stahlindustrie, die im letzten Jahr wegen der verschwindenden sozialistischen Parlamentsmehrheit nicht zustande kam, wird sicherlich einer der ersten Schritte eines neuen Kabinetts Wilson sein. Die Arbeiterpartei und auch der Premierminister selbst ließen nie Zweifel an ihren Nationalisierungsabsichten aufkom- men, .In seinem Buch „The Relevance of Irtish Socialism”, das schon vor der Teilten Wahl geschrieben worden ist, zitiert Mr. Wilson durchaus zustimmend die Resolution der Parteikonferenz von 1961, wonach eine moderne Wirtschaft, die auch sozial gerecht ist, nur durch Nationalisierung erreichbar wäre; die Nationalisierung müsse so umfangreich sein, daß die Gesellschaft die Wirtschaft kontrollieren könne. Das Gemeineigentum kann freilich in unterschiedlicher Form ausgeübt werden. Es reicht von völliger Verstaatlichung über Genossenschaften und kommunales Eigentum bis zu staatlicher Beteiligung an privaten Unternehmen. Die Parlamentsdebatte über die Verstaatlichung der Stahlindustrie im Mai und Juni 1965 legt allerdings den Schluß nahe, daß in der politischen Praxis der staatlichen Beteiligung nur geringe Bedeutung zukommt. Unter dem Druck der öffentlichen Meinung, die in Großbritannien keineswegs verstaat- lichungsfreundlich eingestellt ist, haben sozialistische Politiker zwar versichert, die Stahlindustrie wäre der einzige betroffene Industriezweig, im Programm hat man es jedoch peinlichst vermieden, die Grenze der Sozialisierungswelle aufzuzeigen. Dort steht, wie erwähnt, nur die vage Formulierung, daß die Verstaatlichung ausreichend sein müsse.

Wilson im Scheinwerfer

Das Anklammern an ideologische Vorurteile ist bedauerlich, besonders im Falle Harold Wilson; der Premierminister hat sich seit November 1964 vom reinen Parteipolitiker zum Staatsmann gewandelt, und man zweifelt hier, ob ein konservativer Premierminister ebenso erfolgreich gewesen wäre. Aber durch dieses Festhalten an überholten Pro- grammpunkten beweisen die Sozialisten nur auf ihre Art, daß sich noch keine britische Partei von der Vergangenheit gelöst hat. Denn mit einer Verstaatlichung können weder das kurzfristige Problem des Zah- lungsbilanagleichgewiohts noch die mangelnde Dynamik in vielen Industriezweigen behoben werden. Nicht einmal strukturelle Anpassungen, die nach. Harold Wilson damit erleichtert werden sollen, lassen sich etwa beschleunigen, wie hier die Kohlenindustrie zeigt. Die Übereinstimmung namhafter Wirtschaftstheoretiker, daß wirtschaftliches Wachstum, technischer Fortschritt und Planifika- tion nicht von der Eigentumsstruk- tur einer Wirtschaft abhängen, konnte viele prominente Sozialisten, vor allem jene des linken Flügels, nicht überzeugen.

Neben der Wirtschaftspolitik zählt die Europapolitik zu den bedeutendsten Zankäpfeln. Während die Regierung trotz des französischen Wohlwollens der EWG noch immer äußerst vorsichtig gegenübersteht, tritt Mr. Heath bedingungslos für einen Beitritt zum erstmöglichen Termin ein. Dieses mutige Eintreten kann den Konservativen zweifellos eine nicht geringe Anzahl liberaler Stimmen bringen. Diese Gefahr dürfte auch die Zentrale der Arbeiterpartei erkannt haben, da der Premierminister in letzter Zeit seine Europafeindlichkeit zu verbergen trachtet.

Umstrittene „Gewerkschaftsgerichte”

Die Frage der Kontrolle der Gewerkschaften hat sich in den letzten zwei Wochen zu einer entscheidenden Frage entwickelt, als bekannt wurde, daß in zwei Fabriken rechtswidrige „Gewerkschaftsgerichte” Arbeiter, die an inoffiziellen Streiks nicht teilnahmen, mit einer Geldstrafe von etwa 150 Schilling belegten. Dies roch den meisten Engländern zu sehr nach Terror. Die Regierung beeilte sich, den Gewerkschaftsbund zu einer öffentlichen Untersuchung zu veranlassen, und lehnt seither mit dem Hinweis auf das schwebende Verfahren jeden Kommentar ab. Immerhin zeichnen sich auch hier Unterschiede der beiden Großparteien ab. Die Regierung ist allgemein wohl auch für eine strenge Kontrolle der Gewerkschaften, hütet sich jedoch vor konkreten Vorschlägen. Das ist desto verständlicher, als ja die Arbeiterpartei historisch aus der Gewerkschaftsbewegung hervorging und auch heute noch finanziell von ihr abhängt. Der zuständige Sprecher der konservativen Opposition verlangte hingegen die Ausschöpfung kollektiver Verhandlungen durch die Sozialpartner als obligatorisch und erzwingbar sowie die Strafandrohung für inoffizielle Streiks. Nach einer amtlichen Statistik sollen im letzten Jahr 19 von 20 Streiks nicht vom Gewerkschaftsbund unterstützt worden sein. Die konservativen Vorschläge könnten der bitischen Volkswirtschaft tatsächlich ziemlichen Schaden ersparen. Auch die internationalen Gläubiger Großbritanniens verlangen zielführende Maßnahmen auf dem Gewerkschaftssektor und empfahlen ein Gesetz ähnlich dem Taft- Hartley-Act in den USA.

Obwohl sich die Auseinandersetzungen um die Gewerkschaftsfrage noch nicht in den Ergebnissen der Meinungsbefragungen niederschlug, soll der Premierminister sehr besorgt sein. Irgendein Schritt, der die Richtung seines Kabinetts nach einem Wahlerfolg näher umschreibt, ist vor dem Wahltermin deshalb noch zu erwarten. Dies ist Harold Wilson schon dem Vertrauen schuldig, das ihm die Briten überwältigend entgegenbringen. Seit Churchill hat es keinen Premier gegeben, der so populär gewesen wäre. Diesen Umstand erklärt man mit der konservativen Ausstrahlung der Persönlichkeit Harold Wilsons, welche die Wähler vergessen läßt, daß er einer radikalen Partei vorsteht. Von dieser Popularität zieht auch die Partei ihren Nutzen. Nach den Ergebnissen der Meinungsbefragungen würden jetzt (Mitte März) knapp 50 Prozent der Stimmen auf die Regierungspartei entfallen, um fünf Prozentpunkte mehr als 1964; die Tories erhielten nur rund 42 Prozent oder um einen Prozentpunkt weniger Stimmen als bei der letzten Parlamentswahl. Dies entspräche einer sozialistischen Mehrheit im Unterhaus von etwa 75 Sitzen. Da die Befragungen in den letzten Wochen einen steigenden Trend für die Arbeiterregierung aufwiesen, hält man in London einen Erdrutsch zugunsten der Sozialisten für durchaus möglich. David Butler veröffentlichte in der „Sunday Times” seine Schätzungen, wonach ein Gewinn der Sozialisten von sechs Prozentpunkten gegenüber 1964 eine Labour-Mehrheit von 200 Mandaten ergäbe. Aber schon eine Vergrößerung des gegenwärtigen Vorsprungs vor den Tories um nur 1,5 Prozent sollte eine sozialistische Unterhausmehrheit von 150 Sitzen zur Folge haben. Und es ist durchaus wahrscheinlich, daß die Sozialisten ihren Vorsprung noch vergrößern werden. Die Atompolitik des Premierministers, die in dem lapidaren Satz gipfelt: Kein deutscher Finger am Knopf einer Atombombe, leuchtet hier allgemein ein. Auch die Bemühungen um einen weltweiten, völligen Bann von Atomversuchen sind durchaus populär und werden so manche unentschlossene Stimme gewinnen. Schließlich sind auch die NATO-Plänen Mr. Wilsons für viele Engländer zugkräftig.

Jenseits des Empire

Jenseits von statistischer Theorie läßt die Alltagserfahrung in Bus und Untergrundbahn einen sozialistischen Erfolg erwarten. Offenbar ist noch nicht genügend Zeit verstrichen, daß die konservative Regierungsperiode in Vergessenheit geriet. Man erinnert sich noch vieler nicht eingehaltener Versprechen. Außerdem halten viele Wähler Edward Heath für nicht so fähig wie Harold Wilson. Und die Tatsache, daß kein britischer Premierminister heute und künftig weltpolitische Ereignisse bestimmend beeinflussen kann, nehmen viele Wähler einfach nicht zur Kenntnis. An der zu erwartenden Wahlniederlage der Konservativen wird auch deren massive Unterstützung durch die Presse wenig ändern. Offenbar meinen die Wähler, daß die Tories noch einige Jahre Opposition nötig haben, um alle Schlacke, die sich in den zwölf Jahren ihrer Regierung ange- sammelt hat, restlos zu beseitigen. Für alle Parteien könnte in den nächsten Jahren aber das Zu-Ende- Denken eines Wilson-Zitats sein: Großbritannien hat ein Imperium verloren und bis jetzt noch keine neue Rolle gefunden. Nach Ansicht unabhängiger Publizisten und Beobachter könnte in einer richtigen Fortsetzung dieser Feststellung die Antwort auf die meisten gegenwärtigen Probleme liegen.

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