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Mancnmai gesenenen uinge, tue selbst den nicht aus der Ruhe zu bringenden Engländern den Atem nehmen und stundenlange Debatten erzeugen. Als die Ergebnisse der Nachwahl in einem Wahlkreis im Westen Schottlands bekannt wurden, schlug diese Nachricht wie eine Bombe ein. Sowohl der liberale als auch der konservative Kandidat verloren ihre Wahlkaution (etwa 11.000 österreichische Schilling), weil sie nicht den minimalen Anteil von 12,5 Prozent der abgegebenen Stimmen erreichten. Ein Labour-Sieg wurde zwar erwartet, das Ausmaß überraschte jedoch selbst die wohlinformierten innenpolitischen Kommentatoren der überregionalen Presse. Der sozialistische Kandidat erhielt 21.266 oder 51 Prozent der Stimmen; das ist eine Mehrheit von 11.516 Stimmen gegenüber 9371 im Jahre 1959. Ein weiteres staunenerregendes Resultat dieser Nachwahl war der Erfolg des nationalschottischen Kandidaten Mr. Wolfe, der mehr Stimmen erzielte als der konservative und liberale Kandidat zusammen (9750).

Deutet dieses Nachwahlergebnis in :inem traditionell sozialistischen In-lustriebezirk tatsächlich auf einen Jmschwung der Meinungen? Nach len letzten allgemeinen Parlaments-vahlen vor drei Jahren schien es, als )b die Konservative Partei ihre par-amentarischen Gegner für lange Zeit vernichtet und für zunächst unbe-jrenzte Dauer eine konservative Re-;ierung gesichert hätte. Ihre Manager jnd Parlamentsabgeordneten in den :inzelnen Wahlkreisen und die Re-gierungsmitglieder blickten daher nicht •nit Unrecht vertrauensvoll in die Zukunft. Der große Wahlerfolg ließ >ie für den Augenblick die Wieder-:rweckung der Liberalen vergessen, lie 1958 zum erstenmal seit dem krieg in der Nachwahl in Torrington, ;iner Industriestadt im Südwesten Englands, einen Wahlsieg errungen latten; die Propagandamaschine war ;anz auf den Kampf mit den Sozialsten abgestimmt. Zwei Monate nach ler allgemeinen Wahl gewannen die konservativen im Wahlkreis Brighouse und Spenborough, einem Industriebezirk im Nordosten Englands, in einer Nachwahl einen Parlamentssitz, der für lange Zeit einen sozialistischen Parlamentarier nach Westminster gesandt hatte.

Auch 1960 zeigte das Land keine Anzeichen, daß es mit seiner konservativen Regierung unzufrieden war. In dieser Zeit bot die Labour Party keineswegs eine anziehende Alternative. Der innere Zwiespalt der Sozialisten über eine einseitige atomare Abrüstung führte 1960 zu einer offenen Krise. Der Parteirat schloß eine Reihe von Mitgliedern aus — der prominenteste unter ihnen war zweifellos der linksradikale Intellektuelle Michael Foot —, und die Einheit der Labour Party konnte nur mit Mühe gewahrt werden. Beide Flügel der Partei sahen sich in die Enge getrieben und vermieden seither jede Maßnahme, welche den Konflikt abermals offen ausbrechen ließe. Es dauerte zwei Jahre, bis der Führer der Labour Party, Hugh Gaitskell — durchaus ein Mitglied des neuerdings vielzitierten „Establishment“, erzogen in der berühmten Public School von Winchester und der Universität in Oxford —, den Parteidisput über den sogenannten Verstaatlichungsartikel des Parteiprogramms der Labour Party vergessen machen konnte und das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Einheit der Partei nahezu zurückgewann. Erst im Sommer 1961 hatte er genug Spielraum, um einen Angriff auf großer Linie gegen die konservative Regierung zu beginnen. Es waren aber weniger die Sozialisten als die überraschend erstarkten Liberalen, welche die beachtlichen Stimmenverluste der Konservativen verursachten.

Eine Reihe von historischen Ereignissen trug zur Erschütterung der so sicher scheinenden Basis der Regierung bei. Für die Vorbereitung der beiden zentralafrikanischen Commonwealth-Länder Süd- und Nordrhodesien auf die Unabhängigkeit arbeitete das Kolonialministerium Verfassungsentwürfe aus, welche eine Revolte der extremen Rechten der Konservativen Partei zur Folge hatte. Premierminister Mc-Millan glättete die Wogen, indem er einen Personenwechsel im Ministerium vornahm und den als zu radikal empfundenen Mr. Macleod durch Mr. Maudling ersetzte. Die öffentliche Debatte um die Todesstrafe und später die Entscheidung der Regierung, um die Aufnahme in die Europäische Gemeinschaft anzusuchen, lieferte sowohl der offiziellen Opposition — Labour Party — wie den Liberalen willkommenes Material. Das Einwanderungsgesetz, das zum erstenmal die Einwanderung aus den Commonwealth-Ländern beschränkt, trug auch nicht gerade zur Popularität der Regierung bei. All dies erzeugte zwar ein gewisses Unbehagen, hätte aber kaum das

Wahlkreisen n%chMl|^ri, vegscJoTM^>(f WaftVvriwich der- KegieruBgL.un^ M\ mit der Konservativen Partei den Unwillen der Wähler eintrug, war die Verkündigung der sogenannten „Lohnbremse“ (wage-pause).

Hat sich die Gunst von den Konservativen abgewendet? Daß diese Frage berechtigt ist, beweisen die Ergebnisse der zehn Nachwahlen des ersten Halbjahres 1962. Von den abgegebenen Wählerstimmen erhielt die Regierungspartei 20,1, die Labour Party 43,8 und die Liberalen 21,6 Prozent. Von den zehn Sitzen konnten nur zwei von konservativen Kandidaten errungen werden; die Sozialisten brachten sechs und die Liberalen zwei Kandidaten durch. Den Wahlkreis Orpington, der bisher traditionell konservativ wählte, gewann vor einigen Wochen ein liberaler Kandidat. In anderen Wahlkreisen verdrängte die Liberale Partei die Konservativen von der zweitstärksten Position.

Verglichen mit der Parlamentswahl 1959, haben die Konservativen daher im Durchschnitt rund ein Viertel und die Labour Party 7 Prozent ihrer Stimmen eingebüßt. In den vier Wahlkreisen, in denen die Liberalen schon 1959 Kandidaten stellten, stieg ihr Stimmenanteil um nahezu ein Fünftel.

Noch vor wenigen Wochen wiesen die Führer der Konservativen Partei in Reden und Interviews den Gedanken an baldige Neuwahlen entschieden zurück. Nach dem Ergebnis der Nachwahlen in West-Lothian forderte Oppositionsführer Gaitskell jedoch mehrmals noch in diesem Herbst Neuwahlen. Wie aus der obenstehenden Tabelle ersichtlich ist, haben die Sozialisten selbst in Industriebetrieben nicht ihre alte Stellung zurückerobern können. Ein nicht geringer Prozentsatz der englischen Wähler mißtraut eben noch immer den Sozialisten angesichts ihrer wirtschaftspolitischen Absichten. Obwohl Mr. Gaitskell kürzlich in Middlesborough energisch die Möglichkeit einer Verstaatlichung des großen Chemiekonzerns ICI zurückwies, wenn Labour wieder an die Macht käme, gelang es ihm nicht, die Zweifel restlos zu beseitigen. Bezeichnenderweise verwendete er in seiner

Rede die Wendung „die Labour Party denke vorderhand nicht daran ...“; das Wort „vorderhand“ machte natürlich die innenpolitischen Kommentatoren hellhörig. Die Unzufriedenheit schlägt sich daher in dem erstaunlichen Stimmenzuwachs der Liberalen Partei nieder. Vielleicht ist Unzufriedenheit ein zu starkes Wort für die Stimmung unter der Bevölkerung. In der mittleren und jüngeren Generation kann man aber nicht eine gewisse Resignation übersehen. Die Zeitungen informieren ihre Leser laufend, daß die Bemühungen der Regierung, die Ausfuhr anzukurbeln, bisher ziemlich erfolglos blieben. Obwohl man mit Genugtuung zur Kenntnis nimmt, daß sich die Zuwachsrate der westdeutschen Exporte verflachte, betrachtet man um so mehr mit Unbehagen das rasche Wachstum der Wirtschaft Italiens, das nach allgemeiner Meinung in den nächsten Jahren als Hauptkonkurrent an die Stelle Westdeutschlands treten wird. Und man wirft der konservativen Regierung vor, daß sie England in den letzten Jahren nicht geführt, sondern bloß verwaltet habe.

Unterhält man sich mit Studenten in Oxford, Cambridge oder in einer der Provinzuniversitäten, bemerkt man immer wieder die große Anziehungskraft der liberalen Studentenorganisation. So antworteten zum Beispiel einige Studenten des St. John's College in Cambridge ihrem Korrespondenten auf die Frage, warum sie die liberale Gruppe unterstützten: „Wir haben einfach genug von den Tories. Sie haben keinen Schwung mehr. Die Sozialisten sind durch innere Zwistig-keiten noch immer steril. Wir hätten ja Vertrauen zu Mr. Gaitskell, der immerhin in Oxford studierte, aber ob er sich auf die Dauer gegen den linken Flügel seiner Partei wird durchsetzen können, muß bezweifelt werden.“ Eine junge Bibliothekarin in Manchester drückte ihre Meinung ungefähr so aus: „Die Konservativen sind jetzt elf Jahre an der Macht, wir wollen einmal etwas Neues sehen, und wirklich Neues können uns nur die Liberalen bieten. Die Liberalen haben von allem Anfang an einen Beitritt zum Gemeinsamen Markt gefordert. Sie haben von allem Anfang an diese .verrückte' Lohnbremse der Regierung bekämpft.“

Sicherlich darf man solchen Meinungen nicht zu viel Gewicht beilegen, der gewonnene Eindruck wird aber unterstützt durch die Äußerungen .von Forschungsstudenten für Sozialwissenschaften und Politik sowie ihrer Dozenten, die sich etwa so zusammenfassen lassen: „Verschiedene Streitfragen, wie Commonwealth, Gemeinsamer Markt usw. haben sich kaum auf die Einstellung der Wähler zur Regierung ausgewirkt. Um so mehr Unwillen erzeugte jedoch die ,wagepause'. Zweifellos hätte der Mann von der Straße selbst diese Maßnahme hingenommen, wenn sie von Erfolg gewesen wäre. Aber sie war ein Schlag ins Wasser. Obwohl der Lohnstopp angeblich das Preisniveau hätte stabilisieren sollen, stieg es um durchschnittlich fünf Prozent, bei einzelnen Gütern wie Getränken und Tabak um zehn Prozent. Auf der anderen Seite verärgerte die Regierung durch die Ablehnung von Gehaltsforderungen potentielle Anhänger wie Lehrer, Eisenbahner, Postbeamte und jüngst auch die Krankenschwestern. Daß sich dies natürlich auf die Nachwahlen auswirkte, dürfte klar sein. Vergessen

Sie nicht, daß die Labour Party 1951 die Macht nach einer Periode des Lohnstopps verloren hatte.“

Freilich ist es verfrüht, eine Wahlniederlage der Konservativen in einer möglichen Herbstwahl vorauszusagen. „In der Beurteilung der innenpolitischen Lage Großbritanniens darf man nicht übersehen“, sagte ein Professor von der Universität Manchester, „daß es in Nachwahlen viel mehr auf rein lokale Fragen ankommt, als bei allgemeinen Wahlen. Hinzu tritt eine größere Arbeitslosigkeitsrate in der Mehrzahl der Wahlkreise, in denen heuer Nachwahlen stattfanden. Das erklärt auch das günstige Abschneiden des nationalschottischen Kandidaten in West-Lothian.“ .

Auch überzeugte Labour-Anhänger weisen auf den Umstand hin, daß in allgemeinen Wahlen die Partei als solche viel mehr im Vordergrund steht. Und obwohl diese jungen Labour-Mitglieder gerne England von einer sozialistischen Regierung geleitet sehen würden, sind sie sehr skeptisch über die Aussichten ihrer Partei in etwaigen Neuwahlen. Die Konservativen haben es immerhin fertiggebracht, den außenpolitischen Fehlschlag des Suezabenteuers zu überwinden und 1959 mit einer größeren Mehrheit nach Westminster zurückzukehren. Die Wahlstrategen der Regierungspartei auf dem Smith Square in London, an der Spitze der Führer der Parlamentsfraktion, Mr. Macleod, sind sich jedoch bewußt, daß in der kommenden Wahl durch das Wiedererwachen der Liberalen ein großer Unsicherheitsfaktor ins Spiel gebracht wurde. Premierminister McMillan erwähnte neulich, daß die Regierung den Beitritt Englands zum Gemeinsamen Markt noch heuer zum Gegenstand einer Neuwahl machen könnte und davon absehen wolle, die große Parlamentsmehrheit diese Frage entscheiden zu lassen. Dies deutet darauf hin, daß die Ergebnisse der jüngsten Nachwahlen geeignet sind, einen psychologischen Druck auf das Selbstvertrauen der Regierungspartei auszuüben.

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