6792862-1970_47_06.jpg

Wie neutral ist das neutrale Österreich?

19451960198020002020

Im Laufe dieses Monats wird das Parlament der Republik Österreich darüber zu entscheiden haben, ob die Dienstzeit im Heer auf sechs bis maximal sieben Monate verkürzt werden soll. Die Abgeordneten, die diesen beiden Regierungsvorlagen ihre Stimme geben, müssen wissen, was sie damit tun: Sie gefährden damit die staatliche Einheit und Souveränität Österreichs; sie vergrößern damit die Gefahr eines Krieges.

19451960198020002020

Im Laufe dieses Monats wird das Parlament der Republik Österreich darüber zu entscheiden haben, ob die Dienstzeit im Heer auf sechs bis maximal sieben Monate verkürzt werden soll. Die Abgeordneten, die diesen beiden Regierungsvorlagen ihre Stimme geben, müssen wissen, was sie damit tun: Sie gefährden damit die staatliche Einheit und Souveränität Österreichs; sie vergrößern damit die Gefahr eines Krieges.

Werbung
Werbung
Werbung

Es darf als empirisch unwiderlegbar vorausgesetzt werden, daß ein Sechs-Monate-Heer ohne Geld — und das heißt: ohne genügend Führer und Unterführer einerseits, ohne genügend Waffen, Gerät und Munition anderseits —, daß solch ein zur Attrappe degradiertes Heer nicht imstande ist, militärisch diejenigen Aufgaben zu erfüllen, die ihm staatspolitisch gestellt sind. Damit aber dekuvriert ein Bekenntnis zur Neutralität sich als bestenfalls eitles, schlimmstenfalls zynisches Geschwätz.

In Österreich herrscht bezüglich der Neutralität die läppische Vulgärmeinung vor: Die anderen dürfen uns eh nix tun! An sich vernünftig, aber neutralitätspolitisch genau so irrelevant ist die Hoffnung, ein starkes Heer werde potentielle Gegner von einem militärischen Angriff auf Österreich abhalten; denn dazu braucht man ja nur das Heer, aber keine Neutralität. Offiziös und offiziell wird aus dem neutralen Status die Pflicht gefolgert, streitenden Parteien den Ein- und Durchmarsch gewaltsam zu verwehren beziehungsweise sie vorher schon durch die Forderung eines unverhältnismäßig hohen Eintrittspreises — Blut und Gut und Zeit und Prestige — abzuschrecken: Laßt es bleiben, es zahlt sich nicht aus! Doch auch diese Interpretation trifft noch nicht völlig den Kern der Sache. Neutralität im vollen Wortsinn besteht erst dann, und wirksam und nützlich ist Neutralität erst dann, wenn die in der Nachbarschaft des neutralen Staates streitenden Parteien sich bedenkenlos darauf verlassen können, daß ihrem jeweiligen Gegner der Durchmarsch durch den neutralen Staat von dessen eigenen Kräften verwehrt werden wird: Der andere kommt da nicht durch! Denn dann erst kann jede der streitenden Parteien darauf verzichten, mit ihren eigenen Truppen auf dem neutralen Territorium zu operieren. Analyse zweier konkret denkbarer Bedrohungsfälle:

Der Warschauer Pakt schickt „brüderliche Hilfe“ nach Jugoslawien, doch dessen Armee und Volk leisten Widerstand. Um in die linke Flanke der jugoslawischen Abwehrfront zu kommen und um im Raum Garz bis Triest den materiellen Nachschub zu unterbinden —• Titos Heer ist ja weitgehend mit amerikanischen Waffen ausgerüstet —, erwägen die Russen einen Stoß über Graz und Klagenfurt in den Raum Ljubijana, den sie einem abwehirbereiiten Bundesheer gegenüber jedoch nicht riskieren können, weil dadurch die feindliche Front nicht umgangen, sondern nur verlängert würde. Ein entmilitarisiertes Österreich hingegen wird die Sowjets zu dieser Aktion ermuntern, aber auch die Jugoslawen dazu zwingen, dem Angriff in ihre verletzliche Flanke möglichst weit nördlich, jedenfalls noch vor dem Fall von Graz, zu begegnen, so daß ein Krieg, an dem Österreich in keiner Weise aktiv beteiligt ist, auf österreichischem Territorium ausgetragen würde. In dem Fall eines großen Ost-West-Konfliktes nun muß sich das Interesse aller direkt und indirekt Beteiligten auf Tirol konzentrieren, wo lächerliche 50 Kilometer neutralen Territoriums den Mittelaibschnitt der NATO (Westdeutschland) von deren Südabschnitt (Italien) trennen. Im Kriegsfall muß die NATO diesen Raum sich offen, der Warschauer Pakt ihn sich gesperrt wünschen. Die Russen selber können diese Nord-Süd-Verbindung der NATO nur sperren durch den massiven Einsatz schwerer taktischer Atomwaffen gegen den Großraum Innsbruck, worauf sie aber, schon aus Sparsamkeit, verzichten werden, wenn dort drei bis vier abwehrbereite Jägerbrigaden das Bundes-heeres stehen. Denn die NATO kann dort im günstigsten Falle nur drei bis vier Divisionen, zwei bis drei italienische und eine deutsche, ansetzen, also eine zum operativen Durchbruch nicht ausreichende Uberiegenheit von höchstens 3 zu 1 herstellen; und, was für die in Tirol lebenden Menschen noch wichtiger ist: sie kann atomare Kampfmittel ihrerseits kaum zum Einsatz bringen, da ein aufgelockert und verzahnt kämpfender Feind kein lohnendes Ziel bietet, und ein Atomschlag gegen das rückwärtige Frontgebiet just diejenigen Verkehrswege und

Verkehrsmittel ruinieren oder doch langfristig lähmen würde, die sie, die NATO, sich doch erkämpfen möchte. In diesem gedachten Fall eines großen Ost-West-Kxxnflikts schwebt natürlich auch ganz Oberösterreich und insbesondere das Städteviereck Linz—Enns—Steyr—Wels in höchster atomarer Gefahr, sofern dieser Raum nicht ausreichend durch österreichische Truppen gesichert ist. Über den Raum Linz—Enns mit seinen vielen Donau- und Ennsbrücken, wo die Verkehrswege sich bündeln, kann ja die NATO in die Südflanke von W APA-Mitte und, genau so, der Warschauer Pakt in die Südflanke von NATO-Mitte stoßen. Aber da nun beide Paktsysteme an einem chronischen Mangel an Kampftruppen leiden, werden beide zur Abdeckung der offenen Südflanke ihres Mittelabschnitts, also in Oberösterreich (auch) atomare Kampfmittel zum Einsatz bringen, auf deren Gebrauch sie nur dann verzichten können, wenn dort zwei bis drei Jäger-und ein bis zwei Panzerbrigaden des Bundesheeres bereit sind, jeden Aggressor, aus welcher politischen Himmelsrichtung er auch angreife, zurückzuschlagen. Und wenn diese paar Brigaden tatsächlich dort stehen, dann wird es zum Kampf gar nicht kommen: weil weder die NATO noch der Ostblock dann fürchten muß, daß der Gegner da durchzubrechen vermag.

Kurzum: je stärker das Bundesheer, desto geringer ist die Gefahr, daß auf österreichischem Territorium gekämpft wird: weil dann keine der verfeindeten Parteien sich genötigt sieht, das, was auf Grund der Neutralitätsverpflichtung dem österreichischen Bundesheer obliegt, selber zu besorgen. Und je schwächer das Heer, desto größer wird die Verpflichtung der Regierungen nicht nur von Belgrad bis Bern und von Bonn bis Prag, sondern auch von Washington bis Moskau, die rund 80.000 Quadratkilometer, auf denen rund 7 Millionen Österreicher leben, in ihre militärischen Planungen einzu-beziehen.

Das also sollten die Abgeordneten zum Nationalrat, bevor sie ihre Stimme abgeben, bedenken: daß es eine relative, eine halbe, eine einseitige Neutralität schon dem Begriff nach nicht gibt; daß Neutralität nur als ein Maximum von Neutralität denkbar und also nur eine totale, also nur eine bis an die Zähne bewaffnete Neutralität geeignet ist, den Staat vor der Gefahr der rechtlichen und das Staatsvolk vor der Gefahr der physischen Liquidierung zu bewahren. Sie sollten bedenken, daß es nicht um neun oder sechs oder, wie es notwendig wäre, rund fünfzehn Monate Dienstzeit geht, sondern um die Chance des Überlebens. Sie sollten auch bedenken, daß schon die kleinste Änderung des militärischen Gleichgewichts — man entsinne sich nur der aufgeregten Debatte um den Abzug der kanadisehen Brigade (5000 Mann) aus Deutschland! — den exakt konstruierten Frieden gefährdet, und daß, anderseits, die neutralen Staaten, wenn sie durch ihre Rüstung für kriegsfreie Zonen garantieren, auch über ihre Grenzen hinaus als stabilisierende Faktoren wirken. Und die Abgeordneten könnten bei dieser Gelegenheit gleich auch bedenken, daß ein Staat ohne Zivilschutz der atomaren Erpressung, ein Staat ohne ökonomische Vorsorge der wirt-schafbspolitischen Erpressung hilflos ausgeliefert ist, und daß also Landesverteidigung weitaus mehr bedeutet als bloße Heerespolitik.

Es liegt in der Hand der Abgeordneten, radikal Schluß zu machen mit der Katastrophenpolitik einer Regierung, die das Vabanquespiel zur Staatskuinst erklärt hat. Den insbesondere auch in der Vertrauenssphäre bereits angerichteten Schaden zu beheben und über eine echte Reform des Heeres und der ganzen Landesverteidigung zu einer von der „Prawda“ erst jüngst wieder und ganz zu Recht urgierten „konsequenten Neutralitätspolitik“ zu finden: das allerdings wird bei diesem schier hoffnungslosen Stand der Dinge vermutlich dann nur noch einer von allen drei Parlamentsparteien gebildeten Konzentrationsregierung gelingen, mit parteifreien Fachleuten im Außenamt und im Verteidigungsressort. Wenn aber die Abgeordneten in dem holden Wahn, daß Politik ohne Macht praktizieirbar sei, die Schick-salsstunide verschlafen, bleibt dem Volk nur noch, direkt zu begehren, was ihm jetzt gänzlich genommen werden soll: seine durch eine militärisch fundierte ' Neuitralitätspolitik garantierte, äußerste Sicherheit.

Wenn ein solches Volksbegehren nicht zum Ziele führt, dann weiß man wenigstens, woran man ist; und weiß es,. im Gegensatz au 1938, als es bekanntlich nachher niemand hat gewiesen sein wollen, sogar namentlich. Wenn aber irgend jemand — und sei das Kreisky selbst, der als Autofahrer ja wissen dürfte, daß man in einer Sackgasse den Retourgang einlegen muß, wenn man nicht gegen eine Mauer prallen will (was ohne Sicherheitsgurt vielleicht tödlich endet) —, wenn also irgend jemand jetzt nachholt, was fünfzehn Jahre lang versäumt worden ist: die sachliche Unterrichtung des Volkes über dem ganzen Problemkreis der nationalen Sicherheit; und wenn dann alle Österreicher wissen, wofür die männliche Jugend im Bundesheer dient: für die ganz konkrete politische Freiheit und für den ganz konkreten sozialen Wohlstand und damit, letzten Endes, für das ganz konkrete persönliche Glück ihrer Eltern, Geschwister, Freunde, Frauen und Kinder; und wenn dann deshalb ein solches Volksbegehren, vielleicht wider alles Erwarten der manchmal verblüffend ahnungslosen Politiker, ein eindrucksvolles Manifest nationalen Selbstbewußtseins, eine Dokumentation staatsposdtiver Gesinnung daixstellt; und wenn dann das Parlament dadurch aktiviert wird und die Regierung, gleich welcher Farbe oder Farbkombination, die Konsequenzen zieht: dann hat dieser Kleinstaat Österreich einen außenpolitischen Erfolg erzielt, der faktisch und moralisch weit über allem rangiert, was die gefinkeltste Diplomatie je bewirken könnte. Ein solches Völksbegehren würde jedenfalls den Nachbarn Österreichs und den Signatartmäcbten des Staatsvertrags (und da vor allem den keineswegs grundlos mißtrauischen Russen) zeigen, und zwar im Prozentzahlen, wie neutral das neutrale Österreich wirklich ist.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung