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Wie sozialistisch istSkandinavien?

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Skandinavien ist in den vergangenen Jahrzehnten für die sozialistischen Parteien der demokratischen Länder zu einem „Mekka“ geworden. Der Pilgerstrom der Sozialisten aus den kontinentaleuropäischen Ländern und aus Übersee riß nicht ab: bewundernd sprach man vom „nordischen Weg zum Sozialismus“, während in anderen Ländern die Sozialdemokratie permanent die Oppositionsbänke drücken mußte. Gebannt verfolgten die Parteichefs die Parteikongresse in Nordeuropa, ausführlich wurden die revidierten und modernisierten Programme analysiert und nicht selten sogar als Vorwurf für die eigene Parteipolitik der nächsten Jahre genommen. So deutete sich der Trend innerhalb der Sozialdemokratie von einer orthodox-marxistischen Partei zu einer „Volkspartei“ unter Verzicht auf das erstarrte und wirklichkeitsfremde Funktionärsdenken vor allem in wirtschaftlichen Fragen zuerst in Stockholm an. Die deutlich erkennbare Liberalisierung hinterließ ihre Spuren zunächst in den skandinavischen Nachbarländern — Finnland, Dänemark und Norwegen —, gab aber auch Impulse nach Holland, Belgien, Westdeutschland, Frankreich und Österreich.

Wie stark ist eigentlich der „nordische Sozialismus“? Diese Frage ergab sich in den Herbstmonaten mit den Wahlen am 18. September in Schweden, am 2. und 3. Oktober in Finnland und am 15. November in Dänemark. Obwohl es sich in Schweden und Dänemark um die Parla-mentswahlän handelte, in Finnland dagegen um eine Kommunalwahl, lassen die Ergebnisse Schlußfolgerungen auf die politische Kräfteverteilung zu, da die Landtagswahlen in Finnland ausschließlich unter außenpolitischen oder parteipolitischen Aspekten standen, die lokalen Gesichtspunkte wurden in den Hintergrund verdrängt.

Die „Riksdags“-Wahl in Schweden und die „Folketinget“-Wahl in Dänemark bestätigten zunächst eines: kein anderes Kommunikationsmittel vermag breiteste Volksschichten so anzusprechen wie die Television. Beide Länder erlebten ihre erste große „Televisionswahl“, in beiden Ländern verzeichnete man eine rekordartige Wahlbeteiligung; sie lag um etwa 8 5 Prozent. In Schweden — die Parteiführer hatten übereinstimmend erklärt, daß die Septemberwahlen die wichtigste politische Entscheidung der Nachkriegszeit für Schweden bedeuteten — gelang es, die „zweitgrößte Partei im Lande“, die

Partei der NichtWähler anzusprechen. Dies gelang in erster Linie nicht durch Plakataktionen, durch Presse und Rundfunk — insgesamt gaben die Parteien 30 Millionen Kronen für Werbezwecke aus — sondern über die nahezu eine Million Fernsehapparate, die einen guten Teil der 7,4 Millionen Bürger erfassen können. Repräsentativumfragen ergaben denn auch, daß der weitaus größte Teil der 4,970.232 Wahlberechtigten in den 28 Provinzen und 6175 Wahldistrikten zumindest eine der fünf großen Tele-visionssendüngen der kandidierenden Parteien — das sind Sozialdemokratie, Zentrumspartei, Konservative, liberale Volkspartei und Kommunisten — bewußt gesehen haben. Das gleiche Bild ergab sich in Dänemark: von den 2,9 Millionen Wahlberechtigten hatten — einer Meinungsumfrage nach — mindestens 2 Millionen mehr oder minder regelmäßig die politischen Wahlprogramme verfolgt

MEHRHEIT NUR MIT KOMMUNISTEN

In Schweden ergab sich zu den Unterhauswahlen folgendes Bild: Die sozialdemokratische Regierungspartei Tage Erlanders regierte nur noch mit Hilfe der kleinen kommunistischen Fraktion. Die Partei harte durch Steuererhöhungen und andere wirtschaftliche Maßnahmen, die in den Vorjahren zu einer Währungskrise führte, mit scharfen Angriffen der bürgerlichen Opposition — der Zentrumspartei, der Liberalen Volkspartei und der konservativen „Höger“ — zu rechnen. Der bürgerliche Block konnte sich zu Recht gute Chancen für einen Regimewechsel ausrechnen; es gelang ihm jedoch nicht, geeint gegen die sozialistische Partei aufzutreten. Dies wurde von den Sozialisten klug genutzt, so daß es zu einetn Mehrfrontenkampf in der Wahlschlacht kam. Die Folgen für die Opposition waren deutlich abzulesen: Eindeutiger Gewinner der Wahl wurde Tage Erlanders sozialdemokratische Partei, die 48,5 Prozent der abgegebenen Stimmen auf sich vereinigen konnte, erstmals über zwei Millionen Stimmen gewann und bei einem Neugewinn von fünf Unterhausmandaten nunmehr 116 Sitze von den insgesamt 232 Mandaten im Parlament beanspruchen kann. Eindeutiger Verlierer wurde die konservative Höger-Partei, die neun Mandate verlor und damit ihre Stellung als Oppositionsführerin einbüßte. Die Partei konnte 15,7 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen und nimmt im Unterhaus 36 Mandate ein. Zur stärksten Oppositionspartei wurde die Liberale Volkspartei, die ein Mandat gewann, 17,2 Prozent der Stimmen buchen konnte und durch 39 Abgeordnete im Parlament vertreten ist. Am meisten Stimmengewinne buchte von den bürgerlichen Parteien die ehemalige Bauernpartei — nunmehr Zentrum —, der der Vorstoß als „Mittelstandspartei“ in die kleineren Städte gelang: drei neugewonnene Mandate — nunmehr insgesamt 35 Sitze — und 14 “Prozent der abgegebenen gültigen Stimmen. Die Kommunisten buchten 4,6 Prozent der Stimmen, verzeichneten einen Mandatsgewinn und sind mit sechs Abgeordneten im „Riksdagen“ vertreten.

LINKSRUCK IN HELSINKI

Die Kömmunalwahlen in Finnland am 2. und 3. Oktober zeigten eine Grundtendenz zur weiteren Radikalisierung: die Parteiender äußersten Rechten und äußersten Linken buchten Gewinne. 2,7 Millionen Wahlberechtigte sollten über die Zusammensetzung der 532 Kommunalparlämehte entscheiden, um die Mandate hatten sich 12.223 Politiker aus acht politischen Gruppen beworben. Traditionsgemäß traten die bürgerlichen Parteien geschlossen auf gegen den sozialistischen Block. Der Wahlkampf wurde mit äußerster Härte geführt, wenn auch nicht, wie man zeitweilig befürchten mußte, unter hjirgerkriegs-

ähnlicher Stimmung. Als Diskussionsthemen überwogen: der letzte Chruschtschow-Besuch in Finnland und seine Folgen, die kommunistische Machtergreifung im Gewerkschaftsbund, Finnlands geplanter EFTA-Anschluß und die Figur des „allzusehr auf Moskau ausgerichteten“ Staatspräsidenten. Die kommunistische Partei der Volksdemokraten — im Riksdagen in Helsinki stärkste Fraktion — scheute keine Kosten und Mühe, um ihre Stellung weiterhin auszubauen, was zu einer gewissen Radikalisierung des Wahlkampfes führte. Durch die Spaltung der Sozialdemokratie in einen linken und rechten Flügel ist die KP zur stärksten Partei im Lande geworden: sie buchte für sich 421.000 Stimmen und 2435 Mandate. Das bedeutet, daß die Partei 146 neue Sitze rundurii im Lande und 22,2 Prozent der Stimmen erobern konnte. Politische Experten in Finnland sind trotz dieses Wahlerfolges der Meinung, daß die Kommunisten nunmehr ihren zeitweise beängstigend stürmischen Vormarsch bendet haben und in den kommenden Reichstagswahlen die ersten Verluste hinnehmen müssen. Diese Ansicht, die auf ausführlichem Zahlenmaterial und gründlichen Analysen basiert, wird auch durch die Tatsache bewiesen, daß die „Volksdemokraten“ bei der letzten Reichstagswahl noch 25 Prozent aller Stimmen auf sich vereinigen konnten. Die sozialdemokratische Opposition — die sogenannten Simoni-ten —, die im politischen Alltag gerne mit den Kommunisten zusammenarbeitet, buchte rund 63.000 Stimmen und 230 Mandate für sich, was einem Prozentanteil von 2,9 entspricht. Da diese Gruppe im Riksdagen durch 14 von insgesamt 200 Abgeordneten vertreten ist (die sich überdies sämtlich von der Stammpartei losgesagt haben, auf deren Listen sie in die Kammer gewählt wurden), bedeutet dies, daß die Stärke der Linksunabhängigen bisher sehr weit überschätzt wurde. , Die sozialdemokratische Stammpartei buchte nämlich 406.000 Stimmen und 2289 Mandate für sich — das heißt 22 Prozent der abgegebenen gültigen Stimmen. Daraus eTgibt sich, daß 87 Prozent der sozialdemokratischen Wähler ihrer Partei treu blieben und nur 13 Prozent den abtrünnigen linken Flügel, stützten. Der bürgerliche Block konnte rund eine Million Stimmen gewinnen und hat Anspruch auf 7063 Mandate (Gewinn 162); gemeinsam verfügen also die Konservativen der Samlingspartei, die Liberalen der finnischen beziehungsweise schwedischen Volkspartei und die Bauernpartei über 52,6 Prozent der Stimmen.

NEUE PARTEIGRUPPEN IN DÄNEMARK

In Dänemark ergab sich erstmalig in einem skandinavischen Land in einer Parlamentswahl, daß die bürgerlichen Oppositionsparteien gemeinsam auftraten. Die konservative Partei und die liberale Venstre veröffentlichten ein gemeinsames Programm, drs eine echte Alternative zur sozialistischen Regierungspolitik bedeutete. Die Chancen zu einem Regimewechsel wurden als denkbar günstig bezeichnet. Das Wahlergebnis brachte einige handfeste Überraschungen und eine regelrechte Sensation: zwei Parteien verschwanden völlig von der politischen Bildfläche, zwei neue tauchten dafür auf. Grundtendenz: ein klarer Sieg für die sozialdemokratische Partei Viggo Kampmanns, die im Amt bestätigt wurde. Die Partei buchte erstmalig mehr als eine Million Stimmen für sich (39,4 Prozent aller gültigen Stimmen), gewann sechs neue Mandate, so daß sie im Folketinget zu Kopenhagen mit 76 Parlamentariern vertreten sein wird. Den beiden kleinen Koalitionspartnern erging es dagegen schlecht. Glimpflich kam die liberale Partei der Radikalen noch davon; sie verlor nur drei Mandate (insgesamt 7,8 Prozent der Stimmen) und wird mit 11 Abgeordneten ins Parlament einziehen. Eine Katastrophe erlebte der andere Koalitionspartner der Sozialdemokratie, der Retsforbundet: sämtliche neun Sitze gingen verloren, die Partei konnte die Mindestforderung — die Eroberung von 60.000 Stimmen oder eines Wahlkreises — nicht erfüllen. Die Konservativen konnten ihre Stellung ausbauen und zwei. Mandate gewinnen — 16,6 Prozent der Stimmen entfielen auf diese Partei; im Folketinget sitzen nunmehr 32 Konservative. Den Liberalen der Venstre ist jedoch das Wahlbündnis mit den

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