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Wiedergeburt der Mitte?

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Als man sich dem ersten Wahlgang am 14. März näherte, hatte der französische Duxchschnittswähler jedes Verständnis für dieses Durcheinander von Listen, örtlichen Koalitionen, Tarnungen und Gegensätzen völlig eingebüßt. Weder die Parteien mit ihrer differenzierten Taktik, noch die Presse machten es dem ohnehin apolitisch gewordenen Bürger leicht, die Zusammenhänge zu erkennen und die großen Zielsetzungen der einzelnen Formationen zu deuten. Er konnte es einfach nicht begreifen, warum sich Sozialisten und Kommunisten in nordfranzösischen Gebieten zu gemeinsamen Listen bereitfanden, während sie sich in Südfrankreich bis aufs Messer bekämpften. Der politische Kuhhandel, der in vielen Gemeinden nicht selten zu grundlegenden Neuorientierungen zwischen den beiden Wahlgängen am 14. und am 21. März führte, trug dazu bei, den Blick des Wählers zu trüben und seine Bereitschaft zur Ausübung seiner Staatsbürgerpflicht entschieden zu verringern. Das ist die Erklärung für die relativ mäßige Wahlbeteiligung am ersten Wahlsonntag. die bei den Stichwahlen des zweiten noch um einige Prozent abnahm. Die Zahl derer, die sich von den Wahllokalen fernhielten, weil sie eine mißbräuchliche Auswertung ihrer Stimme fürchteten, ist Legion. Und eine Reihe von Prozessen, die wegen wirklicher oder angeblicher Wahlverletzungen auf örtlicher Basis angestrengt wurden, scheinen manchen Skeptikern recht zu geben.

Wenn wir nun versuchen, Licht in das schwer durchschaubare Gestrüpp der Wahlüberlegungen zu bringen, sehen wir uns den folgenden Ausgangspositionen gegenübergestellt: Im Grunde konkurrierten von Anfang an drei Kräfte um die politische Vormachtstellung, selbst wenn keine von ihnen angesichts der örtlichen Zersplitterung Aussicht auf die absolute Mehrheit haben konnte: die Gaullistenpartei UNR, die Parteien der Mitte und die Kommunisten. Die Gaullisten, die sich ihrer

Schwächeposition auf der Ebene der Städte und Gemeinden bewußt waren, suchten durch Wahlbündnisse mit den Mittelparteien oder durch „Patronage“ der unpolitisch firmierenden Organisationen — wie etwa der Bewegung zur Erneuerung von Paris — wenigstens rein optisch von rechts nach der Mitte hinzurücken. Dabei bemühten sie sich nach bewährtem Muster und auf Grund einer bereits in der Dritten Republik wurzelnden Erfahrung, die Kommunistische Partei als „Bürgerschreck“ hinzustellen, dessen Niederwerfung alle anderen Erwägungen unterzuordnen sei. Dort, wo kommunistisch-sozialistische Koalitionen zustandegekommen waren, wurde der Popanz der Volksfront beschworen, getreu einem von Andri Malraux geprägten Schlagwort, daß es in Frankreich nur Gaullisten und Kommunisten gebe. Die Wahlstra-iegie der Regierungspartei UNR übernahm der Innenminister Roger Frey persönlich und leitete sie von seinen in unmittelarer Nähe der Elysees gelegenen Amtsräumen aus.

Roger Frey kam es in erster Linie darauf an, in den großen politischen Zentren des Landes so weit wie möglich eine gaullistische Mehrheit zu sichern und denjenigen Bürgermeistern zum Sieg zu verhelfen, die der UNR oder einer ihr nahestehenden Organisation angehörten. Sein Hauptaugenmerk war dabei auf die Städte Paris und Marseille gerichtet, und dies in dem Maße, daß man zeitweilig den Eindruck gewann, daß sich der ganze Wahlkampf um die französische Metropole und die zweitgrößte Stadt des Landes am Mittelmeer drehte, die seit vielen Jahren die stärkste Bastion der Sozialisten war.

Die Konzentration des Innenministers auf diese beiden Schwerpunkte ist vor allem mit dem Blick auf die im Dezember stattfindenden Präsidentschaftswahlen zu erklären: Paris gilt traditionsgemäß als symbolhaft für die Meinungsbildung des gesamten Landes, und in Marseille galt es, den Widersacher de Gaulies, seinen Gegenkandidaten bei den Dezemberwahlen, Gaston Defferre, als Bürgermeister zu eliminieren und ihm damit einen entscheidenden Prestigeverlust zuzufügen. Sollte sich jedoch die Niederwerfung Defferres mit Hilfe des Stimmzettels als unmöglich erweisen, so planten die Regierungs-strategen, ihn politisch in den Augen der Wählermassen dadurch zu kompromittieren, daß er zur Rettung seiner Position zur Koalition mit den Kommunisten gezwungen werden sollte. Diesem Ziel diente ein kürzlich von Minister Frey erson-nenes und spezifisch auf den Fall Marseille zugeschnittenes Wahlgesetz, das die Stadt in acht Sektoren aufteilte.

Die Art des in Marseille geführten Wahlkampfes und die dort angewandten Methoden offenbarten allen Franzosen, daß in den Augen der Regierung die Munizipalwahlen ihren bisherigen, im Grund unpolitischen Sinn — die Einsetzung oder Bestätigung einer erfahrenen und gut funktionierenden lokalen Verwaltung — weitgehend verloren hatten: Sie wurden zur ersten Runde Im Kampf um die Elysees. Die Tatsache, daß Ministerpräsident Pom-pidou vier Tage vor dem ersten Wahlgang eine allen übrigen Parteien verschlossene Propagandamög-lichkeit wahrnahm und im Fernsehen eine Werberede für die Regierung hielt, gab der Vermutung Raum, daß Staatspräsident de Gaulle selbst auf eine politische Meinungs-beeinflussung hinwirkte. Nachträgliche Pressediskussionen darüber, ob die Aktion Pompidous rechtmäßig war, blieben eine für die Galerie bestimmte platonische Angelegenheit.

Doch das endgültige Wahlergebnis, das Innenminister Roger Frey als „Bestätigung der Stabilität“ charakterisierte, war kaum dazu geeignet, die Regierung zufriedenzustellen: Mit wenigen Ausnahmen hielt die Volksfront und die ihr nicht angehörenden Linksparteien ihre Bastionen im Land, die gaullistische UNR konnte ihre Stellung gerade behaupten — in Paris gewann sie einen einzigen Sitz und sah such hier einer ebenso starken Volksfrontformation gegenübergestellt — und in Marseille errang Gaston Defferre einen klaren Sieg und damit die Bestätigung seines Bürgermeisterpoetens für weitere sechs Jahre. Hier wurde die UNR völlig erdrückt. Als neues Phänomen trat im ganzen Land ein beachtlicher Erfolg der Mittelparteien auf — der Volksrepublikaner, Radikalen und Unabhängigen Demokraten —, die allen Pressionen zu widerstehen vermochten und es ablehnten, sowohl mit den Gaullisten als auch mit den Kommunisten zu paktieren. Nach dem zweiten Wahlgang sprach man von einer Wiedergeburt der Mitte, und die objektiven Beobachter gaben zu, daß der Versuch der Regierungspartei, die Nation als von zwei Willensströmungen bestimmt zu definieren, gescheitert war.

Dies mag bei den Dezemberwahlen wenig ins Gewicht fallen und während des Verbleibs de Gaulles als bestimmende Spitze der französischen Politik ohne Belang sein — für den Nachgaullismus eröffnet die Sammlung einer „dritten Kraft“ fraglos interessante Perspektiven, unter der Voraussetzung freilich, daß es ihr gelingt, sieh zu einem homogenen Faktor zu entwickeln. Vielleicht liegt das entscheidende Ergebnis der politisierten Gemeindewahlen des Jahres 1965 darin, daß Frankreichs Zukunft nicht mehr unter dem Aspekt der Alternative „gaullistischer Nachgaullismus“ oder „Volksfront“ erscheint, sondern unter dem der Polarität zwischen dem „gaullistischen Erbe“ und der „gemäßigten bürgerlichen Konzentration“, die eines Tages möglicherweise die Sozialisten — oder zumindest einen Teil von ihnen — auf ihre Seite hinüberzuziehen vermag. Der vermögende Großbürger Gaston Defferre könnte symbolhaft für eine derartige spätere Entwicklung werden.

Defferres Wahlkampf in Marseille und sein doppelter Triumph über die Gaullisten und die Volksfrontliste — der sozialistische Abgeordnete Daniel Matalon und einige seiner Gesinnungsgenossen, die der Bürgermeister als „Verräter“ sofort aus der Partei ausschloß, entschlossen sich zu einer Koalition mit den Kommunisten — hat zu einer erheblichen Festigung seiner Stellung sowohl als Präsidentschaftskandidat als auch als politischer Exponent und Stratege beigetragen. Der Zorn Moskaus und seiner französischen Befehlsempfänger, den sich Defferre durch seine Ablehnung eines gemeinsamen sozialistisch-kommunistischen Programms zuzog, kann für seine Karriere nur nützlich sein, selbst wenn die Kommunisten sich mit der PSU (Parti des Socialistes Unifies) auf einen eigenen Kandidaten für die Präsidentschaftswahlen einigen: Der Makel einer Volksfrontorientierung, den ihm die UNR anzuheften suchte, bleibt ihm erspart. Ohne Rücksicht darauf, daß kein geringer Teil der sozialistischen Parteiführung aus taktischen Gründen die Weigerung Defferres, mit den Kommunisten zu paktieren, nicht billigt, hat er nun die Hände frei, den Kampf um die Elysees nach seinem Gutdünken — das heißt: ohne eine Geiselrolle gegenüber den Kommunisten zu spielen — zu führen. Damit rückt er automatisch zur Mitte hin und wird in den Augen der gemäßigten Nicht-Gaullisten akzeptabler.

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