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Wiederkehr des Krieges, Renaissance der Neutralität

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Normal empfindende Menschen werden vermutlich meinen, das, was auf diesen beiden Seiten dargelegt wurde, wären Haarspaltereien. Trotzdem: manche Ältere werden sich erinnern (in Österreich und Deutschland und anderen Ländern, wo man mit dem schieren Überleben zu tun hatte, wohl weniger), welche Hoffnungen man 1945 mit dem Gedanken an eine weltweite Friedenssicherung verband, nach dem Sieg über die „Achsenmächte” und Japan.

Es ist zumindest psychologisch verständlich, daß sich da in manchen Hirnen und Herzen und Bäuchen etwas wehrt. Wehrt gegen die Idee, alles wäre umsonst gewesen! Wenn die UNO schon nicht den Weltfrieden auf Dauern sichern konnte - immerhin hat sie das Blauhelm-System zustandegebracht. Soll man sich das jetzt auch noch kaputtmachen lassen?

Soll man sich eingestehen, daß es eine Illusion war, die Friedenssicherung von einer umfassenden Organisation wie den UN zu erwarten?

Sollen wir es akzeptieren, wenn jemand proklamiert: Das Zeitalter der ungehemmten Kriegsführung ist wieder ausgebrochen!?

Die Sache hat natürlich noch eine besondere Bedeutung für Österreich. Wenn Serben-Führer Karadzic die UN sozusagen aus den Angeln hebt,

dann ist die seit dem Golfkrieg entwickelte Parole „Solidarität vor Neutralität”, „Teilnahme an einem kollektiven Sicherheitssystem” und ähnliches, überholt. Dann kommt die Weltordnung des 17. bis 19. und frühen 20. Jahrhunderts wieder. Dann ist auch in Europa „Solidarität” nur die Parole einer Koalition im Spiel der Mächte und nicht mehr die Parole eines übergreifenden, friedensorientierten Gemeinwohls.

Dann schaut sich auch die „Neutralität” wieder anders an!

Sie war sinnvoll gegenüber einem Kalten oder Heißen Krieg. Dann kan die Idee auf: Wir müssen ein Sicherheitssystem schaffen, das den Ausbruch von Kriegen verhindert -effektiver als die UN. Dazu brauchen wir ein Maximum an Solidarität. Nur wen alle zusammenhalten gegen einen Aggressor, wird er sich von seiner Aggression abhalten lassen. Das heißt, potentielle Aggressoren werden desto eher entmutigt, je klarer sie mit dem Widerstand aller anderen rechnen müssen.

In einem solchen System ist Neutralität sinnwidrig, nämlich Verweigerung von Solidarität im Dienste der Friedenserhaltung. (Wenn wirklich die Allgemeinheit gegen ein scharzes Schaf steht, ist das eben eine Polizeiaktion gegen Bechtsbrecher).

Aber wenn diese Perspektive zunichte gemacht wird, weil die „Rechtsgemeinschaft der Staaten” eben nicht „über den Kriegsparteien” steht, sondern selbst eine Kriegspartei wird, dann kommt die Zeit der echten und legitimen Kriege wieder. Das heißt: dann haben wir wieder ein klassisches oder neoklassiches Staatensystem mit Parteiungen, Koalitionen, Gegenkoalitionen... Das alte Spiel der Machtpolitik, den Krieg als Mittel zur Durchsetzung „nationaler Interessen”, oder dessen, was man dafür hält. Das wäre die Wiederkehr einer Ära der Politik, die man schon überwunden glaubte.

Wenn sie wirklich wiederkehrt, dann wäre übrigens auch die Politik der Neutralität wieder interessant. Sie wäre dann eben so sinnvoll, wie sie es im 18., 19. und frühen 20 Jahrhundert war. Aber ist das eine attraktive Aussicht?

Sollte man sich nicht doch auf die

Lehren des „Zeitalters der Weltkriege” besinnen und die UNO zu einer wirklich handlungsfähigen Staatengemeinschaft weiterentwickeln? Reformvorschläge gibt es in Fülle. Fraglich ist, ob sich die Staaten -und vor allem die Großmächte -darauf einigen.

Ob es in einigen Monaten, wenn das eigentliche Jubiläum ansteht, nämlich am 24. Oktober 1995, dem 50. Jahrestag des Inkrafttretens der Charta, wirklich Anlaß zum Feiern gibt oder eher Betroffenheit über einen Scherbenhaufen?

Noch ist es zu früh, darüber zu urteilen. Aber sollte man nicht wenigstens in Europa versuchen, ein Sicherheitssystem zu entwicklen, das auf der Grundlage der Solidarität Aggressoren entmutigt? Damit wenigstens ein zweites oder drittes Bosnien vermieden wird... Der Autor ist langjähriger Ordinarius für Politikwissenschaft an der Universität Wien, übernimmt 1995196 den Jacques-Üelors-Lehrstuhl für Europapolitik des Universitätenverbundes „ALMA”. (Aachen)Maastricht) Lüttich). Redaktion: Elfi Thiemer

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