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Wien ist uns naher

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„WIR HABEN MIT DEN SERBEN UND Kroaten nur die Armee, die Außenpolitik und das Geld gemeinsam“, erklärte mir ein slowenischer Schriftsteller mit aller Entschiedenheit. Die insgesamt 1,8 Millionen zählenden Slowenen entwickeln unter den Völkerschaften Jugoslawiens das stärkste Selbstbewußtsein, sie vermerken mit Stolz, daß sie den kultiviertesten, zivilisiertesten, nämlieh westlichsten Teil des Staates bewohnen, und es heißt: „Mit den Kroaten waren wir immerhin schon in der Zeit des alten Österreich beisammen, aber was verbindet uns mit den Serben oder den Makedoniern, die bis 1867 unter der Türkenherrschaft lebten?“ Nach dem weiteren Südosten blickt man von Slowenien her ein wenig wie in die Kolonien, dort „bricht der Balkan aus“, und die notwendigen gigantischen Investitionen werden dort von einer ungeschulten, kaum gebildeten Bevölkerung auf ein Minimum ihrer Wirkung reduziert. Die Slowenen haben ein ausgeprägtes Nationalgefühl, aber sie sind gleichzeitig betonte Mitteleuropäer: „Im Grunde genommen ist uns doch Wien näher als Belgrad“, ein Ausspruch, den man oft hört, der aber nicht unbedingt politisch, sondern gleichsam zivilisatorisch aufgefaßt werden muß.

Der Kroate Tito, der mütterlicherseits aus Slowenien stammt, wie man mir in Ljubljana sogleich erzählte, sicherte den einzelnen Nationen eine gewisse Selbstbestimmung, das Recht auf die eigene Sprache, eigene Verlage, Zeitungen, Theater, Schulen. Und tatsächlich versteht ein Serbe den slowenisch Sprechenden kaum, also ist etwa ein Austausch von Schauspielern unmöglich, und Bücher müssen wechselseitig übersetzt werden. Da nun Slowenien im Vergleich mit den übrigen jugoslawischen Provinzen einen relativ hohen Lebensstandard hatte und hat, ist man über den Ballast dieses Entwicklungsgebiets nicht gerade erfreut und schon gar nicht über den Ehrgeiz, Belgrad zu einer Weltstadt auszubauen. Außerdem ist Slowenien katholisch, ebenso wie Kroatien, zum Unterschied von den orthodoxen anderen Nationen. Und wenn auch das religiöse Leben zumindest offiziell eine geringe Rolle spielt, so führen doch sogar Funktionäre diese Gegebenheit als Charakteristikum der Lage an.

Die Stellung der Kirche in Slowenien ist keineswegs auch nur annähernd so stark wie etwa in Polen, aber sie stützt sich auf eine recht große Zahl von Gläubigen, und es kann nicht von einer Unterdrückung gesprochen werden. Vor allem während des letzten halben Jahres hat ich die Beziehung des Staates zur katholischen Kirche merkbar entspannt. Der regelmäßige Besuch der Messe wirkt sich heute auch für die Karriere in höheren Berufen nicht mehr nachteilig aus, und es ist etwa allgemein wieder Sitte geworden, die Sterbeanzeigen mit einem schwarzen Kreuz zu versehen — was noch vor eineinhalb Jahren nicht üblich war. Die Kirchen sind übrigens während der Messen voll, und man hat den Eindruck, daß der Staat religiösen Unfrieden meidet. In informierten Kreisen erwartet man sogar in nicht zu ferner Zeit ein Konkordat mit den Katholiken.

UND WIE DENKT DER MANN AUF DER STRASSE über seine westlichen Nachbarn? Auf Italien ist man nicht sehr gut zu sprechen wegen Triest, das italienisch wählte. Besser spricht man von Österreich. Sicherlich war zur Zeit der Donaumonarchie auch in Slowenien die Los-von-Wien-Bewegung deutlich genug wirksam. Nun, so mancher hat jetzt über diese Vergangenheit unter dem Doppeladler eine ganz andere Meinung, als sie damals allgemein herrschte. Natürlich blickt man heute nach dem Westen und natürlich vorerst nach Wien, wo die vielen Verwandten und Bekannten leben, denen es — das haben gegenseitige Besuche längst evident gemacht — eben doch sehr viel besser geht. Aber der Nationalstolz ist nicht geringer geworden, und so fühlen sich die Slowenen in erster Linie nach wie vor als eine eigene Nation.

Man ist in Ljubljana nicht glücklich — aber man kann es wenigstens sagen. Freilich sorgsam abgestuft: in privatem Kreis, im Kaffeehaus, auf der Straße ist es möglich, laut sehr offene Kritik zu üben, man kann sie schreiben, in Zeitschriften mit kleinerer Auflage, aber in Tageszeitungen muß der Ton schon ganz anders gehalten sein, und im Rundfunk und Fernsehen gibt es fast nur mehr „Positives“. Allerdings liegen in den gar nicht so seltenen Laibacher Kaffeehäusern die westlichen Zeitungen auf: die „Frankfurter Allgemeine“, die Hamburger „Welt“, der „Münchner Merkur“, die „Neue Zürcher Zeitung“, „New York Herald Tribüne“, „Corriere della Sera“. Aus dem benachbarten Österreich merkwürdigerweise nur das Massenblatt „Kurier“. Sie alle sind in beschränkter Anzahl im öffentlichen Zeitungskiosk zu kaufen, ich sah sie mehrfach dort aushängen, mit dem Datum von vorgestern, also keineswegs sehr veraltet.

LJUBLJANA, DAS EINSTIGE LAIBACH, zählt heute 160.000 Einwohner und ist eine schöne Stadt. Man fühlt sich an Graz, an Salzburg, auch an Meran erinnert. Der Schloßberg in der Mitte, der Fluß, die Ljubljanica, die schmalen Gassen der Altstadt, die barocken Kirchen, kleinen Palais und Bürgerhäuser, dann die Boulevards der „Ringstraßenzeit“, schließlich die Bauten des Sezessionismus, das alles versetzt den westlichen Besucher in den Bereich der einstigen Donaumonarchie. Trotzdem ist Laibach mit den vorhin genannten Städten nicht zu vergleichen. Denn die Hotels, die Läden, die Waren, die Kaffeehäuser sind qualitativ weit zurück. Zwar baut man jetzt ein Hochhaus — Hotel „Lev“ — nahe dem Bahnhof, aber die Leistungen sind erst abzuwarten. Das schon vor dem Krieg bestehende Cafe auf einem im Zentrum gelegenen Wohnturm hat wohl eine wunderschöne Aussicht, wirkt aber im Innern sehr provisorisch.

GEWISS WERDEN DIE Verhältnisse trotz schleichender Inflation und Rückschlägen langsam besser, und zwar sowohl wirtschaftlich als auch politisch. Aber diese Entwicklung geht ungemein schleppend und zäh vonstatten. Man kann, vor allem über eine längere Zeitspanne hinweg, zweifellos Fortschritte erkennen, doch auch die Ansprüche des westlichen Besuchers steigern sich ja von Jahr zu Jahr. Was sich gerade auf einem jugoslawischen Hauptinteressengebiet, dem Tourismus, sehr ungünstig auswirkt. Man hat in den Planungsbüros der „volkseigenen“ Industrien und des Fremdenverkehrs längst die im System liegenden Probleme erkannt, aber wie soll man sie beheben, ohne das System und seine Ideologie zu sehr zu verändern? Man weiß, daß Wege gefunden werden müssen, und gerade jetzt beraten die Parteimanager mit sorgenschweren Häuptern hinter verschlossenen Türen, wie das Ei des Kolumbus gefunden werden könnte: nämlich die Mitarbeit der Bevölkerung zu gewinnen und ihr jene Dynamik zu geben, die allein bewirken könnte, daß man aus dem schon so lange währenden wirtschaftlichen Engpaß endlich herauskommt.

Will man sich schließlich fachlich möglichst eingehend über das kulturelle Leben in Ljubljana informieren, so führt der beste Weg vorerst zum Schriftstellerverband. Das Sekretariat amtiert in einer kleinen Villa gegenüber dem von Bäumen und Büschen bewachsenen Tivoli, Klubräume stehen zur Verfügung, und man erhält Auskünfte, Empfehlungen, Theaterkarten. Nachdem ich mich angesagt hatte, empfingen mich etwa fünfzehn Herren, die alle fließend deutsch sprachen und mir in einem ausführlichen Gespräch um den runden Tisch bereitwillig Antwort gaben. Das Sekretariat hatte Persönlichkeiten aus den verschiedensten Gebieten des kulturellen Lebens zusammengerufen: zwei Theaterkritiker, einen Verlagslektor, den Chef der philosophischen Ab-teüung der Universität (er kam gerade von einem einjährigen Aufenthalt in den USA), einige Lyriker, Romanautoren, zwei Professoren der Theaterschule. Sogleich unterhielt man sich über gemeinsame Themen: über Fragen des Kontakts zwischen der westlichen Kultur und Slowenien, über Möglichkeiten und Grenzen eines Austausches. Natürlich fiel sofort der Name Wien, und von diesem Augenblick an hätte das ganze Gespräch auch in einem kultivierten Salon an der Ringstraße stattfinden können — denn es erwies sich zu meiner Verblüffung, daß die meisten der Herren mit den Verhältnissen in Wien ungemein vertraut waren. Es ging da nicht um die Verwandten, die fast jeder Laibacher in Österreich hat, sondern um Spielpläne, Autoren, um die Hochschulsituation. Man ist in Laibach darüber im Bilde. Und nicht nur über Wien. Auch Paris ist gegenwärtig — ebenso Moskau.

„Wir sind nur ein kleines Volk von insgesamt 1,8 Millionen Menschen, aber wir haben unsere eigene Sprache, unsere eigene Literatur, eigene Verlage, eigene Theater“, erklärte man mir mit Entschiedenheit. Es wird auf den slowenischen Dichter Franz Preseren aus der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts hingewiesen (er hat in Wien studiert), auf Josef Jurcic und Ivan Cankar, der mit seinem „Haus Mariahüf“ einen der interessantesten Romane des Wiener Fin de siecle geschrieben hat. Die Tradition der slowenischen Kultur, die durch zwei Bibelübertragungen (1586 von Primus Trüber und 1800 von Valentin Vodnik) wesentliche Marksteine erhielt, wird — freilich in säkularisiertem Sinn — ungemein intensiv gepflegt. Und gerade mit der Nußschalengröße dieser nationalen Einheit ist die außerordentliche kulturelle Aktivität des kleinen Volkes zu begründen: denn kaum durch seine Industrie oder sonstige technische Leistungen wird Slowenien in der Welt je Aufsehen erregen können. Aber vielleicht durch einen großen Schriftsteller, Musiker, Sänger, durch das Niveau seiner Oper, seiner Bühnen.

Es ist eine merkwürdige Erfahrung, daß man heute gerade in den relativ kleinen östlichen Ländern und ihren Städten (Ljubljana zählt 160.000 Einwohner) kaum ein provinzielles Denken antrifft. Obwohl das Reisen ins westliche Ausland wegen Devisenmangels (selten mehr aus politischen Gründen) schwierig ist und man als Jugoslawe und somit des Titoistischen Revisionismus bezichtigter Herätiker in den anderen Ostländern offiziell nicht gerade gern gesehen wird, hat man sein Auge und Ohr überall. Die Schriftsteller, Künstler, die Intellektuellen, die Studenten lesen mit Feuereifer die verhältnismäßig spärlich aufliegenden, aber eben doch zu bekommenden ausländischen Zeitungen vor allem westlicher Herkunft. Sie versäumen keinen guten westlichen Film (und die meisten von ihnen werden zumindest bei irgendwelchen inländischen Filmwochen gezeigt), lesen neue Bücher, noch bevor sie übersetzt werden, in der Originalsprache, und diskutieren über das „Theater des Absurden“, als wären sie täglich mit Ionesco beisammen. In solch kleinen östlichen Kulturen fehlt jener unangenehme Zug der Selbstzufriedenheit und Selbstgefälligkeit, der ja eigentlich das Wesen des Provinzialismus ausmacht, vollkommen. Vielleicht gerade, weil die Kulturauslage nicht so ohne weiteres alles anbietet, was das Herz begehrt, weil manche Zeitschriften immer noch Seltenheitswert haben und von Hand zu Hand gehen, ist die dem Kulturellen zugewandte Energie um so stärker. Gewiß darf auch nicht vergessen werden, daß die Konkurrenz der sonstigen irdischen Güter auf Grund der elenden wirtschaftlichen Lage nicht gerade attraktiv wirkt, so daß die Kultur fast die einzige Möglichkeit zur Entfaltung persönlicher Interessen bietet. Jedenfalls, so gewinnt man die sichere Meinung, leben die Künstler und Intellektuellen von Ljubljana keineswegs irgendwo am fernen Rande der kulturellen Ereignisse — vielleicht gerade weil sie sich so weit fort von den etikettierten Weltzentren der Kultur empfinden.

BEDEUTENDE ROMANAUTOREN UND DRAMATIKER? „Gewiß, wir haben Talente“, antwortet man auf meine Frage, „aber auf diesen beiden Gebieten gibt es augenblicklich keine überragende, dominierende Persönlichkeit. Hier wollen wir noch warten, bevor wir Namen nennen.“ Hingegen hat man in der Lyrik interessante, moderne und wesentliche Arbeiten aufzuweisen. Mit dem vor zehn Jahren verstorbenen Oton Zupancic begann hier eine neue Phase der „slowenischen Modernen“, zu der noch Alojz Gradnik, Pawel Golia, Igo Gruden, Franz Albrecht und Lili Novy gehörten. Unter den heute lebenden älteren Autoren sind etwa Mile Klopcic und Bozo Vodusek zu nennen. Die jüngere Generation weist eine ganze Reihe sehr eigenartiger Lyriker auf, etwa Tone Pavcek, Kajetan Kovic, Sasa Vegri, Ivan Minatti, Dane Zajc, Gregor Strunisa, wobei die stilistische Spannweite von der ruhigeren Form bis zu inhaltlich weitgehend abstrahierten sprachlichen Experimenten reicht.

Man hat auch bei der Beschäftigung mit den slowenischen Verlagen den Eindruck eines enormen kulturellen Ehrgeizes, der durchaus international orientiert ist. Wobei in dieser Internationalität der Westen eine besondere Rolle spielt. In den Verlagsprogrammen gibt es zweifellos sehr viel weniger russische Autoren oder sonstige Ost-Schriftsteller als etwa in Ungarn oder sogar in Polen. Aber sämtliche bedeutenden westlichen Werke liegen in slowenischen Übersetzungen vor. Natürlich alle Bücher von Franz Kafka, „es gibt sogar eine billige Schulausgabe seiner Erzählungen“, wird mir erklärt, „denn wir sind der Meinung, daß schon die Jugend mit Kafka bekannt werden soll“. Von Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“ erschien in Laibach überhaupt die erste Ausgabe in einer slawischen Sprache. Unter den Lebenden begegnet man Thiess, Boll, Frisch, Walser, Koeppen, fast allen uns vertrauten Namen. Jedenfalls bemerkt man auch im Gespräch mit Verlagsleuten den energischen Willen, dem kleinen Land Slowenien einen starken kulturellen Akzent zu geben.

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