Marine Le pen - © Foto: APA / AFP / Denis Charlet

Wieviel Rechtsruck verträgt Europa?

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GASTKOMMENTAR. Die EU ist ein Friedensprojekt. Nur mit sozial verträglicher Politik kann sie Menschen wieder von Rechtspopulisten zurückgewinnen.

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GASTKOMMENTAR. Die EU ist ein Friedensprojekt. Nur mit sozial verträglicher Politik kann sie Menschen wieder von Rechtspopulisten zurückgewinnen.

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Die Reaktionen auf die Wah­len zum Europaparlament waren sehr unterschiedlich. Manche Kommentatoren meinten, sie seien äußerst erleichtert, dass der Rechtsruck weniger deutlich ausgefallen wäre als befürchtet. Auf der anderen Seite sind die Anti-Europa-Parteien von Nigel Farage im Vereinigten Königreich, von Marine Le Pen in Frankreich und von Lega-Chef Matteo Salvini in Italien stärkste Parteien in ihren jeweiligen Ländern geworden. Ganz zu schweigen von den Rechtsparteien in Ungarn und Polen, die dort schon längst an der Macht sind und mit Methoden der „Illiberalen Demokratie“ die Unabhängigkeit der Medien und der Justiz beschränken und dadurch die drei Säulen der europäischen Nachkriegsordnung, nämlich Rechtsstaat, Demokratie und Menschenrechte, schleichend aushöhlen. Entgegen anderslautender Prognosen hat das „Ibizagate“ der FPÖ viel weniger Stimmen gekostet als erwartet, und der ÖVP unter Sebastian Kurz, der letztlich die Verantwortung für die Regierungsbeteiligung der FPÖ trägt, einen fulminanten Wahlsieg beschert.


Insgesamt haben die beiden rechtspopulistischen bis rechtsextremen Fraktionen ENF („Europa der Nationen und der Freiheit“) und EFDD („Europa der Freiheit und der Direkten Demokratie“) gemeinsam 114 von 751 Mandaten im Europaparlament erhalten. Wenn man dazu noch die Fraktion der EKR („Europäische Konservative und Reformisten“) und einzelne Abgeordnete anderer Fraktionen zählen will, so muss man konstatieren, dass knapp 200 von 751 Abgeordneten des Europäischen Parlaments (mehr als ein Viertel) der Europäischen Union skeptisch über ablehnend bis feindlich gegenüberstehen. Das ist sehr bedenklich.


Instrumentalisierte Ängste


Es stellt sich daher die Frage, ob die EU noch einen weiteren Rechtsruck vertragen könnte. Auch wenn die nationalistischen und rechtspopulistischen Parteien in Europa angesichts des Brexit-Chaos allmählich davon abrücken, einen Austritt aus der EU zu propagieren, so bleiben sie europafeindlich. Sie untergraben die gemeinsamen Grundwerte, auf denen die EU basiert, wollen die Kompetenzen der EU beschränken und wieder zu einer für sie überschaubaren und kontrollierbaren Souveränität der Nationalstaaten zurückkehren. Sie haben keine gemeinsamen politischen Ziele, außer ihrem Kampf gegen Migration und Flüchtlinge. Sobald ihnen dieses gemeinsame Thema angesichts des Rückgangs der Zahl der Flüchtlinge abhanden kommt, werden sich die nationalen Eigeninteressen gegen die Interessen der anderen Mitgliedstaaten richten. Der erfolgreiche Weg der wirtschaftlichen und politischen Integration Europas kann nicht in sein Gegenteil verkehrt werden, ohne die EU in ihrem Bestand zu gefährden.
Um die Frage zu beantworten, wie dieser verhängnisvolle Weg verhindert werden kann, müssen wir uns vor allem überlegen, was die Nationalisten und Rechtspopulisten so attraktiv für breite Bevölkerungsschichten macht. Vordergründig ist es die Angst der Menschen um ihre nationale Identität, die durch mehr Migration angeblich in Frage gestellt wird. Dahinter steht aber eine tiefe Verunsicherung, die weniger mit Migration als mit der Globalisierung und dem Gefühl der Menschen zu tun hat, ihre demokratische Selbstbestimmung auf nationaler Ebene zu verlieren. Und durch intransparente Mächte wie die EU, die USA oder globale Finanzmärkte fremdbestimmt zu werden. Rechtspopulistische und nationalistische Parteien haben keine Antwort auf diese globalen Herausforderungen. Aber sie verstehen es geschickt, die Ängste zu instrumentalisieren und Sündenböcke wie Flüchtlinge, Muslime oder „die EU“ zu konstruieren. Wer mit Angst Politik macht, wird Hass ernten, wie uns die Geschichte immer wieder gelehrt hat. Dieser Hass entzweit unsere Gesellschaften und untergräbt die demokratischen Werte der Toleranz, des Miteinander und des gemeinsamen Ganzen.

Sog neoliberaler Politik

Die großen politischen wie ökonomischen Probleme und Herausforderungen des 21. Jahrhunderts, allen voran die globale Klimakrise, die ungezügelte Macht der transnationalen Konzerne und globalen Finanzmärkte, wachsende ökonomische Ungleichheit, organisierte Kriminalität und Terrorismus, Korruption, Kriege, Migrations- und Fluchtbewegungen können nur durch eine enge Zusammenarbeit der Staaten im Rahmen globaler Organisationen gelöst werden. Europa könnte bei der Bewältigung dieser Probleme eine Vorreiterrolle spielen. Das geht aber nur, wenn die EU gestärkt und nicht weiter geschwächt wird.


Die EU ist das wichtigste Friedensprojekt, das zur Verhinderung eines dritten Weltkriegs und einer Wiederholung der Schrecken des Holocaust gegründet wurde. Obwohl die wirtschaftliche Integration und die Schaffung eines gemeinsamen Binnenmarkts im Vordergrund standen, waren die Vereinigten Staaten von Europa von Anfang an das langfristige Ziel. Mit dem Maastrichter Vertrag 1992 begann ein politischer Einigungsprozess, der auch die ehemaligen kommunistischen Staaten Mittel- und Osteuropas miteinschloss und in einer europäischen Verfassung hätte münden sollen. Parallel zu dieser positiven Aufbruchsstimmung nach dem Ende des Kalten Kriegs geriet die EU jedoch voll in den Sog einer neoliberalen Wirtschaftspolitik, die mit Margaret Thatcher und Ronald Rea­gan in den 1980er-Jahren begonnen hatte und durch die Politik der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds die Globalisierung nachhaltig bestimmte und weiterhin bestimmt. Die negativen Auswirkungen dieser globalen und europäischen Wirtschaftspolitik, wie globale Klima-, Wirtschafts- und Finanzkrisen, wachsende ökonomische Ungleichheit, Korruption und eine unüberschaubare Macht transnationaler Konzerne wie globaler Finanzmärkte sind hinlänglich bekannt; doch hat die Politik längst die Kontrolle über die Wirtschaft verloren. Das spüren die Menschen, das macht ihnen Angst, das treibt sie in die Arme nationalistischer, rechtspopulistischer und autoritärer Parteien, nicht nur in Europa.


Multilateralismus stärken


Auf nationaler Ebene lassen sich transnationale Konzerne und globale Finanzmärkte nicht mehr kontrollieren. Das kann nur auf globaler Ebene im Rahmen der Vereinten Nationen, der Weltbank, der Welthandelsorganisation und anderer internationaler Organisationen funktionieren. Nationalistische Politiker in den USA, in Russland, China und Europa machen aber genau das Gegenteil: Sie schwächen den Multilateralismus und verteidigen ihre ökonomischen, politischen und militärischen Eigeninteressen unter Umgehung der Vereinten Nationen. Das kann nicht gut gehen. Um die globalen Krisen und Herausforderungen zu meistern, müssen wir den Multilateralismus wieder stärken. Die EU ist geradezu prädestiniert, hier mit gutem Beispiel voranzugehen. Dazu muss sie sich aber als erstes von ihrem neoliberalen Weg verabschieden und wieder zu ihren sozialen Wurzeln zurückkehren. Schließlich war der europäische Wohlfahrtsstaat, wie er sich auf der Basis der Wirtschaftstheorie von John Maynard Keynes in den ersten Jahrzehnten nach Ende des Zweiten Weltkriegs in Westeuropa entwickelte, einmal ein Vorbild für andere Weltregionen. Nur wenn die EU wieder eine sozial verträgliche Politik macht, die mehr an den Interessen der Menschen als jenen der Konzerne orientiert ist, dann wird sie auch wieder die Stimmen jener Menschen zurückgewinnen, die sich in den letzten Jahrzehnten gegen die EU gestellt und rechtspopulistischen Parteien zugewandt haben.

Hinwendung zu Sozialunion

Die dringend notwendigen Reformen der EU gehen allerdings nicht ohne den Rat, in dem die Mitgliedstaaten vertreten sind. Bisher hat der Rat wichtige Reformen, wie die Schaffung einer wirklich gemeinsamen Asyl- und Migrationspolitik oder eine stärkere Hinwendung zu einer Sozial­union verhindert. Nicht selten haben jene Politiker rechtspopulistischer Parteien, die im Rat Reformen verhinderten, danach „die EU“ für diesen Stillstand verantwortlich gemacht. Es ist daher essentiell, dass auf nationaler Ebene durch die pro-europäischen und pro-demokratischen Kräfte weitere Regierungsbeteiligungen rechtspopulistischer und nationalistischer Parteien verhindert werden. Die jüngsten Entwicklungen in Österreich haben wieder einmal belegt, dass solche Parteien in einem liberalen und demokratischen Verfassungsstaat keine Regierungsverantwortung übernehmen dürfen. In der derzeitigen Situation ist es dringend notwendig, dass alle pro-europäischen und pro-demokratischen Parteien Europas über nationale und ideologische Grenzen hinweg zusammenarbeiten, um die EU zu reformieren, zu stärken, weniger neoliberal und bürokratisch, und stattdessen stärker sozial und ökologisch zu gestalten.

Der Autor ist Völkerrechtler und Experte für Grund- und Menschenrechte

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