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Digital In Arbeit

Wildwest am Daten-Highway

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Begann das 21. Jahrhundert schon, als die Glasfaser ihre Pubertät hinter sich hatte und im großen Stil mit dem Verlegen von Glasfaserkabeln begonnen wurde? William J. Mitchell, Professor am Massachusetts Institute of Technology (MIT), beschreibt, wie wir seiner Ansicht leben werden. Als junger Assistent gehörte er zu den Vätern des Internetembryos. Internet und Glasfaserkabel sind in der Sicht des Autors die Grundlagen der Zivilisation der Zukunft. Die Glasfaser, weil sie enorme Bandbreiten für Datenübertragung zur Verfügung stellt. Internet, weil es alle Schranken der Informationsübermittlung sprengt.

Konzipiert wurde das System für die US-Armee als extrem vernetztes, dezentralisiertes Kommunikationssystem ohne zentralen Knotenpunkt. Im Fall eines Atomangriffs konnte keine Zentrale außer Gefecht gesetzt werden. Universitäten wurden auf die Vorteile aufmerksam und adaptierten das System für die interuniversitäre Zusammenarbeit.

Da es in den USA kein Post- und Telephonmonopol gibt, konnte die weitere chaotische Entwicklung nicht verhindert werden. Unzählige unbezahlte Studenten und Computernarren begeisterten sich an der Idee, Glaskabelbetreiber verkauften billig Verbindungen, kurz, heute kann die digitale Weltstadt selbst von der österreichischen Post nicht mehr verhindert werden. Über die geplanten hohen Ortstarife kann sie gerade noch versuchen, das Ärgste zu verhüten. Denn ohne die billigen amerikanischen Ortstarife hätten auch unbezahlte Entwickler das Internet nicht geschafft. Dort kommt die Stunde Ortsgespräch im Schnitt auf etwa sechs Schilling.

Mitchell baut in Fortführung dessen, was spontan entstand, ein Bild der digitalen Stadt der Zukunft. Er entwirft eine völlig neue Lebensart in einer vernetzten Welt ohne kontrollierbare Kommandostelle: „Diese riesige Matrix ist das neue Land hinter dem Horizont, der Ort, der Siedler, Schwindler und die lockt, die König werden wollen.“ Der neue Wilde Westen halt.

Städte hatten wichtige Funktionen, doch die, glaubt er, werden von neuen Bedürfnissen überholt. Kontakte mit anderen Menschen lassen sich jederzeit weltweit anbahnen, oft leichter als mit dem Nachbarn von nebenan. Arbeit werde nichts mehr zu tun haben mit der Arbeit in der heutigen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft. Städte würden sich neu konfigurieren.

Freilich brauche der Mensch auch den persönlichen Kontakt, wobei sich Mitchell hoffnungsvoll zeigt: Gebe es nicht bereits die rsten Cyper-Heiraten über Internet? Weiter bestehe zwar heute in allen Ländern ein flächen-deckendes Telephonnetz, doch würden die Glasfaserkabelbetreiber ihre Linien dort konzentrieren, wo es viele Großkunden gebe, was wieder mehr Kunden anziehen werde. Andere Gebiete würden veröden.

Frage des Bezensenten: Werden also neben den abgeschotteten Siedlungen der Info-Privilegierten mit allen Verbindungen und Annehmlichkeiten die Siedlungen derjenigen entstehen, die nicht einmal dann wüßten, was sie mit einem Computer samt Anschluß machen sollen, wenn sie einen hätten? Wird man die 80 Prozent der in der heutigen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft noch Berufstätigen, die im kommenden Jahrhundert überflüssig werden und die kaum mehr Verdienstmöglichkeiten haben werden, in Beservaten halten wie heute die Indianer?

Die ökonomischen, sozialen und politischen Folgen der wunderschönen Innovationen blendet William G. Mitchell leider völlig aus.

CITY OF BITS

Leben in der Stadt des 21. Jahrhunderts. I on William G. Mitchell, liir/iha'user Verlag, Basel 1996. 2)0Seiten, geb., öS 423,-

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