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Will Peking wirklich Krieg?

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Eines der Hauptargumente Moskaus in seiner bissigen Auseinandersetzung mit Peking lautet, die Chinesen mißachteten die Gefahren der Atombombe, die sie als einen „Papiertiger” bezeichneten, und erhofften von einem Atomkrieg sogar eine Förderung des Kommunismus: „Das Zentralkomitee der KP der Sowjetunion … kann die Ansichten der chinesischen Führung über die Schaffung einer tausendmal höheren Zivilisation’ auf den Leichen von hunderten Millionen Menschen nicht teilen”, heißt es etwa in dem berühmten offenen Brief Moskaus an Peking vom Juli 1963.

Wie weit entsprechen diese Moskauer Beschuldigungen wirklichen chinesischen Ansichten und Absichten? Man kann nicht genug darauf hinweisen, daß in der Auseinandersetzung zwischen Moskau und Peking auf beiden Seiten teilweise mit rein propagandistischen Argumenten gefochten wird. Beide Seiten sprechen ja auch „zum Fenster hinaus” und haben zum Beispiel ein großes Interesse daran, die Gegenseite bei den Völkern der Dritten Welt — den Afro-Asiaten und Lateinamerikanern — anzuschwärzen. Die Behauptung, Rotchina sei atomkriegslüstern, dient gewiß nicht dazu, Peking den Weg zur ideologischen Eroberung der Dritten Welt zu ebnen. Aber wie steht es in Wirklichkeit um die Wahrheit dieser Behauptung?

Ein Zufall, der den Amerikanern wichtige militärische Geheimdokumente Rotchinas in die Hände gespielt hat, ermöglicht es einem endlich, diese Frage teilweise zu beantworten. Es handelt sich bei diesen Dokumenten um 29 Ausgaben des geheimen chinesischen Militärbulletins Kung-tso Tung-hsun (Tätigkeitsbericht) aus der Zeit vom 1. Jänner bis 26. August 1961. Das Bulletin ist eine Publikation der chinesischen Kommunistischen Partei, die für Offiziere vom Regimentskommandanten aufwärts bestimmt ist, sofern diese selbst der Partei angehören. Man nimmt an, daß dieses Geheimmaterial erbeutet wurde, als im Spätsommer 1961 im Verlauf der Kämpfe in Tibet ein chinesisches Regimentskommando überrannt worden war. Alle 29 Ausgaben des chinesischen Militärbulletins werden demnächst in englischer Übersetzung veröffentlicht werden, und die vom Kongreß für kulturelle Freiheit herausgegebene Zeitschrift „The China Quarterly” hat in ihrer jüngsten, chinesischen Militärproblemen gewidmeten Ausgabe diese Geheimdokumente bereits einer sorgfältigen Analyse unterzogen, auf die wir uns im Folgenden stützen. Es handelt sich dabei vor allem um einen Aufsatz von Alice Langley Hsieh, einer wissenschaftlichen Mitarbeiterin der RAND-Corporation und Verfasserin mehrer Arbeiten über Chinas Nuklearprobleme.

Diese wissenschaftliche Analyse der den Amerikanern in die Hände gefallenen chinesischen Geheimdokumente ergibt nun zunächst eindeutig, daß der chinesischen Führung die entscheidende Bedeutung der Nuklearwaffen durchaus bewußt ist Und ein noch weit bedeutsameres Ergebnis: „Das chinesische Denken über die Möglichkeit eines Nuklearkrieges mit den USA ist völlig defensiv!” Im Bulletin werden verschiedene Kriegsmöglichkeiten in Betracht gezogen: ein strategischer Überraschungsangriff mit Nuklearwaffen auf China, eine Landinvasion Chinas mit konventionellen Waffen, ein chemisch-bakteriologischer Krieg und lokale Kriege.

Nun besitzt China allerdings noch keine Nuklearwaffen, und so erscheint es vielleicht als selbstverständlich, daß seine militärischen Führer sich nicht mit der Frage eines nuklearen Gegenschlags Chinas befassen. Immerhin macht man sich in dem Bulletin aber Gedanken über die Verwendung von taktischen Nuklearwaffen. Aber das geschieht nur am Rande, und das Hauptgewicht wird eindeutig auf die konventionellen Waffen gelegt. Dafür werden die Gründe offen angeführt. Die chinesischen Überlegungen im Jahre 1961 gehen von der Annahme aus, daß es in den kommenden Jahren nicht zu einem Krieg kommen werde, falls der Gegner — und darunter werden immer die USA verstanden — nicht wie ein Verrückter handle.

Für den Fall, daß es in den kommenden Jahren doch zu einem Krieg kommen sollte, rechnete die chinesische Führung vor allem mit einem nuklearen Überraschungsangriff der Amerikaner. Ein solcher würde, was der führende militärische Sprecher, Marschall Yeh Chien-ying, offen zugab, lebenswichtige Zentren zerstören. Aber um den Krieg zu beenden, den Gegner zu vernichten, das Land zu besetzen, seien die Armee und konventionelle Waffen nötig. Das hieße aber, daß es letztlich doch auf den Menschen ankomme. Auf dieser Hoffnung basierte der ganze chinesische Verteidigungsplan: daß die Amerikaner trotz strategischer Nuklearbombardierungen gezwungen seien, das Land, nachher in „Mann- zu-Mann-Kämpfen” zu erobern. So machte Peking aus der Not, keine Nuklearwaffen und überhaupt nur eine schlecht gerüstete Armee zu besitzen, eine Tugend, wie Marschall Yeh es laut Bulletin formulierte: „Im Mann-zu-Mann-Kampf kann man nur Handgranaten, Bajonette oder Flammenwerfer benutzen. Wir müssen deshalb den Nahkampf, den Nachtkampf oder den Grabenkampf wählen, um den Gegner zu vernichten … Falls es in den nächsten Jahren zu einem Krieg kommen sollte, können wir den Feind besiegen, indem wir den Nahkampf wählen, obgleich wir keine Spezialwaffen besitzen.”

Das Geheimbulletin enthüllt weiter, daß die chinesische Führung keineswegs mit einem Achselzucken die Möglichkeit einkalkuliert, daß hunderte Millionen von Chinesen in einem Atomkrieg zugrunde gehen würden. Marschall Yeh plädierte für eine sowohl aktive als auch passive Verteidigung gegen Angriffe mit Nuklearwaffen. Sogar wenn China selbst über Nuklearwaffen verfugen würde, werde man die Folgen ihres Einsatzes berücksichtigen müssen. Frau Hsieh meint dazu in ihrem Aufsatz: „Solche Erklärungen lassen nicht den Schluß zu, es sei wahrscheinlich, daß die Chinesen leichtsinnig, rücksichtslos und unvorsichtig werden, wenn sich die Möglichkeit abzuzeichnen beginnt, über eine eigene Nuklearmacht zu verfügen. Die Selbsterhaltung scheint ein wichtiges Element in Chinas militärischen Überlegungen zu bleiben.”

Im Geheimbulletin finden sich keine Hinweise auf die Möglichkeit der Verwendung strategischer Nuklearwaffen durch China, doch wird von einer möglichen Verwendung taktischer Nuklearwaffen gesprochen. Schon 1961 wurde die Armee in der Verteidigung gegen nukleare, chemische und bakteriologische Waffen geschult und diese sogar zur Hauptaufgabe für die Einheiten unter Bataillonsstärke erklärt. Einheiten von Bataillonsstärke an wurden zusätzlich im Gebrauch nuklearer und chemischer Waffen unterrichtet, woraus man den Schluß ziehen darf, daß China den Einsatz taktischer Nuklearwaffen auf dem Kampffeld in Betracht zieht. Überall im Bulletin geben die Chinesen aber zu erkennen, daß sie sich durchaus der Verletzbarkeit ihrer militärischen und wirtschaftlichen Einrichtungen im Fall eines Atomkrieges bewußt sind. Daran ändert ihr wiederholtes Betonen der Bedeutung des einzelnen Mannes und des Mann-zu-Mann-Kampfes nichts, denn dies erfolgt wohl wesentlich, um die Moral der Truppe zu heben, und im übrigen bleibt den Chinesen gar nichts anderes übrig, solange sie nicht über moderne Waffen verfügen.

Doch was sagt das Bulletin über eventuelle chinesische Absichten, mit ihren Landtruppen offensiv vorzugehen? Die Frage ist auf Grund des vorliegenden Materials schwer zu beantworten. Die chinesischen Militärführer betrachten zunächst den konventionellen Bodenkampf als Abschreckungsmittel gegen eine Invasion. Wichtiger aber ist: Sie erkennen, daß einem offensiven Einsatz konventioneller Bodentruppen Grenzen gesetzt sind. Die Verfasserin der Analyse meint, daß die chinesischen Militärführer sehr wahrscheinlich nicht glauben, mit diesen Streitkräften eine längere Aktion auf hoher Ebene durchführen zu können, die eine größere logistische Unterstützung erfordern würde. Das würde bedeuten, daß China sich auf Eroberungen mit Hilfe kleinerer militärischer Maßnahmen in den unmittelbar anstoßenden Gebieten beschränken würde. Die Ereignisse in Tibet und an der indisch-chinesischen Grenze scheinen bisher diesen Überlegungen recht zu geben. Eine solche Taktik, die pragmatisch der eigenen militärischen Grenzen bewußt bleibt, würde aber genügen, die Nachbarn Chinas einzuschüchtern und politisch Peking gefügig zu machen.

Nun enthüllen die Geheimdokumente aber noch etwas, das — vor allem auch im Zusammenhang mit den russisch-chinesischen Auseinandersetzungen — von grundsätzlicher Bedeutung ist: Im Widerspruch zu dem, was Peking offiziell erklärt, ist sich die chinesische militärische Führung durchaus der Gefahr bewußt, daß ein lokaler Konflikt sich zu einem größeren Konflikt;, ja sogar zu einem Nuklearkrieg ausweiten könnte, falls die USA intervenieren würden. (Im Augenblick einer Zuspitzung der Vietnamkrise ein unheimlich aktuelles Problem.) China muß deshalb, jedenfalls solange es selbst nicht über nukleare Waffen verfügt, darauf achten, daß solche lokale Konflikte sich nicht ausweiten. Das bedeutet aber, daß die tatsächliche Militärpolitik Chinas sich durchaus in Übereinstimmung mit der von Moskau befolgten befindet, obgleich „offiziell” die Frage der Gefahr einer Ausweitung lokaler Konflikte in der russischchinesischen Auseinandersetzung einen der Hauptstreitpunkte bildet und Peking offiziell diese Gefahr leugnet.

Die Autorin der Analyse dieser Geheimdokumente geht sogar so weit, zu vermuten, daß China selbst dann darauf bedacht sein würde, Konflikte in „konventionellen Grenzen” zu halten, wenn es über eigene Nukl,earwaffen verfügt. Denn die chinesischen Militärführer scheinen zunächst nur an die Möglichkeit taktischer chinesischer Nuklearwaf- fen zu denken und sich von der Überzeugung leiten zu lassen, die USA dürften nicht zu einem strategischen Nuklearangriff auf China provoziert werden. Aber selbst diese taktischen Nuklear Waffen besitzt China noch nicht.

Diese Analyse chinesischer militärischer Geheimdokumente gelangt so zu dem Schluß, daß die Chinesen sich in ihrem militärischen Denken weit mehr durch pragmatische als durch theoretische Überlegungen leiten lassen. In ihren Überlegungen über die Möglichkeiten eines Nuklearkrieges mit den USA gehen sie • ausschließlich von der defensiven Annahme eines amerikanischen Angriffs auf China aus. Von irgendeiner offensiven Konzeption ist nirgends die Rede. Im Gegenteil zeigt man sich bemüht, eine militärische Provokation der USA zu vermeiden, die zu einem direkten Zusammenstoß zwischen den beiden Mächten führen könnte, sei es mit konventionellen, sei es mit nuklearen Waffen. Gleichzeitig erkennen die Chinesen aber, daß in Gebieten, wo der amerikanische Einfluß schwach ist, Möglichkeiten bestehen, innerhalb gewisser Grenzen die chinesischen Landstreitkräfte einzusetzen, um lokale politische oder militärische ‘Gewinne zu erzielen. Aber die Politik Chinas basiert auf einer realistischen Einschätzung der Gefahren, die die verschiedenen möglichen Arten militärischer Operationen heraufbeschwören.

Soweit die Analyse dieser Geheimdokumente. Man wird vielleicht noch einiges dazu zu sagen haben, sobald sie im Wortlaut veröffentlicht worden sind. Vorläufig kann man nur feststellen, daß die Ereignisse seit 1961 den Ergebnissen dieser Analyse nicht widersprochen haben. Man sieht auch keinen Grund, der die Chinesen hätte veranlassen können, die in diesen Geheimdokumenten von 1961 zu Papier gebrachte Konzeption grundsätzlich zu ändern. Freilich wird sich nach der Explosion der ersten chinesischen Atombombe eine Überprüfung dieser Konzeption aufdrängen. Aber eine Atombombe macht noch keine moderne Nuklearmacht, und bis dahin werden auch die Chinesen wieder etwas mehr zu verteidigen und zu bewahren haben als dies früher der Fall war. Eines jedenfalls darf man wohl als erwiesen annehmen: So unbedacht kriegslüstern, wie Moskau sie mitunter darstellt, sind die Chinesen nicht.

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