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Wilsons Balanceakt

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Der katholische Publizist Christopher Hollis schrieb einmal in einem Kommentar zur innenpolitischen Lage Großbritanniens, daß keiner der beiden großen Parteien in der Außenpolitik ein Spielraum geblieben ist. Jede Regierung, gleichgültig ob ihr Premierminister Harold Wilson, Alec Douglas-Home, Reginald Maudling oder Edward Heath heiße, müsse zwangsläufig die gleiche Linie verfolgen. An diesen Ausspruch erinnert immer wieder die gegenwärtige innenpolitische Situation zwischen London und Glasgow, zwischen Liverpool und Bristol. Auch in der Innenpolitik scheint einem Premierminister kaum mehr ein

Freiheitsgrad übrigzubleiben, um einen Begriff aus der modernen Mathematik zu verwenden. Wer immer auch In Downing Street Nummer 10 residiert, er wird zwischen dem linken und rechten Flügel seiner Partei einen Modus vivendi herstellen müssen. Für niemand dürfte dies jedoch so notwendig sein, um politisch überleben zu können, als für Harold Wilson. Was ist schiefgegangen?

In einer der letzten Nummern der „Sunday Times“ versah der angesehene Kommentator William Rees-Mogg eine Analyse der jüngsten parteipolitischen Entwicklung mit dem Titel: „What's gone wrong?“ („Was ist schiefgegangen?“) Was ist wirklich schiefgegangen mit Mister Wilson, den bei seinem Einzug In Downing Street Nr. 10 so viele Vorschußlorbeeren begleiteten? Neben der Wettervorhersage, der Konjunkturdiagnose und -prognose zählt die Aufdeckung innenpolitischer Triebkräfte zweifellos zu einer der schwierigsten Aufgaben, denen eine breitere Öffentlichkeit in den Zeitungen gegenübergestellt wird, und die deshalb so leicht kritisiert wird. Der Berichterstatter ist kein Hellseher. Er kann nur auf einige Fakten hinweisen, die voraussichtlich die politische Meinung der Briten zuletzt beeinflußte.

Geriet die sozialistische Regierung schon durch die Pfundkrise in ein Kreuzfeuer der Kritik, so haben sich seit Ende 1964 die wirtschaftlichen Schwierigkeiten noch vermehrt. Der Beginn einer Einkommenspolitik, der sich in dem bekannten Dokument Mr. Browns und der beiden Sozialpartner anbahnte, stellte sich inzwischen als eine Sackgasse her-

aus. Dies ist zwar von den Nationalökonomen vorhergesagt worden; die Labour Party wollte jedoch die realen Gegebenheiten nicht zur Kenntnis nehmen. Eine Einkommenspolitik ist ohne Mitarbeit der Gewerkschaften schlechterdings unmöglich. Keine Gewerkschaft wird aber dauernd auf Lohnerhöhungen verzichten wollen und können. Tatsächlich unterstrichen namhafte Gewerkschaftsführer in Reden und am Verhandlungstisch, daß sie die Einkommenspolitik einer Regierung nur so lange unterstützen, als sie unmittelbar bevorstehende Lohnforderungen nicht behindere. Nun gibt es aber immer unmittelbar bevor-

stehende Lohnforderungen. Aus dem gleichen Grund scheint auch eine Lohnpolitik kaum zu verwirklichen zu sein, die sich an der Zunahme der Produktivität ausrichtet. Zwischen den einzelnen Industriezweigen hat sich eine bestimmte Lohnstruktur herausgebildet, welche die Gewerkschaften jedenfalls beibehalten wollen; die Lohnerhöhung im Ausmaß der gestiegenen Erzeugung je Beschäftigten in einem Zweig würde sicherlich eine Forderung in einer weniger produktiven Branche hervorrufen, bloß um den alten Abstand wieder herzustellen.

Wie die Fachleute erwarteten, hat auch der Druck auf die Zahlungsbilanz nicht nachgelassen. Die Regierung mußte daher in der zweiten Maihälfte stärker auf die Konjunkturbremse treten, indem sie praktisch die Bankkredite rationierte. Die höheren Verbrauchssteuern für Zigaretten und alkoholische Getränke sind in der Presse sehr freundlich kommentiert worden, nicht aber vom Mann auf der Straße, dessen tägliches Bier, sein gelegentliches Glas Whisky sich empfindlich verteuert haben.

Die vielen kleinen selbständigen Unternehmer, die teilweise im Herbst 1964 die Arbeiterpartei wählten, sind alles andere als erfreut über die Absicht der Regierung, die Abschreibungsmöglichkeit von Restaurant- und Hotelrechnungen abzuschaffen. Durch diese Maßnahme wird sicherlich nicht die Einnahme des Staates wesentlich erhöht; ökonomisch war sie daher weitgehend vermeidbar; die Regierung entschloß sich zu diesem Schritt, um den linken Flügel der Partei bei guter Laune zu halten.

Unnützes Abenteuer: Stahlverstaatlichung

Alles dies hätte die Regierung wohl kaum in die Defensive gedrängt. Dies blieb dem rational kaum erklärbaren Abenteuer des Gesetzes zur Verstaatlichung der Stahlindustrie vorbehalten. Das Kabinett hat damit auf längere Sicht die stillschweigende Unterstützung der Liberalen unter Jo Grimond eingebüßt. Die Folge davon zeigte sich ein paar Tage später, als die Regierung nur durch die Stimme des stellvertretenden Speakers vor dem Rücktritt bewahrt worden ist. Über die Tagespolitik hinaus wurde das Verstaatlichungsgesetz vielen

Briten zum Zeichen der wahren Verhältnisse in der Regierungspartei. Der immer noch mächtige Einfluß des linken Flügels der Sozialisten ist mit einem Schlag sichtbar geworden, einer Gruppe von Politikern, die mit ihrer Einstellung zu vielen Fragen (atomare Bewaffnung, Südostasien, Europa, Ost-West-Handel, Beziehungen zur DDR usw.) auf der Linie einer „sozialistischen Internationale Zweieinhalb“ liegen dürfte. Dieser Gruppe vertraute jedenfalls die Mehrzahl der sozialistischen Wähler im Vorjahr nicht das Geschick des Landes an.

Der große Einfluß der Unken Politiker macht es verständlich, daß ein so hervorragender politischer Taktiker wie Wilson sich in das voraussehbare Risiko einer Verstaatlichungspolitik überhaupt einließ. Dieses kalkulierte Risiko war der Preis, den Harold Wilson zahlen mußte, um die parlamentarische Unterstützung der extremen Linken in einer ganzen Reihe von strittigen Fragen zu behalten, und war der Preis für die militärische Gegenwart Großbritanniens in Südostasien, für die atlantische Gemeinschaft, für die Beibehaltung einer eigenen atomaren Bewaffnung Großbritanniens und für die deflatorischen Maßnahmen zum Ausgleich der Zahlungsbilanz. Mit dieser Beschwichtigungspolitik gegenüber dem eigenen linken Flügel begann Mr. Wilson jedoch einen schwierigen

Balanceakt zwischen vorzeitiger Neuwahl und einer Linksdrift.

Welche Hürden sich auftürmen können, zeigten die Ergebnisse der letzten Gemeinderatswahlen in England, die mit einer schweren Niederlage der Arbeiterpartei endeten. Gleichzeitig begann der Stern Harold Wilsons in der Gunst der Wähler zu sinken, wie die letzten Meinungsbefragungen andeuteten. Die inzwischen bekanntgewordenen Absichten der Regierung, eine dynamische Rente einzuführen, das Krankengeld von der Höhe des Arbeitseinkommens abhängig zu machen und allgemeine Biennien für Angestellte und Arbeiter durchzusetzen, brachte das Kabinett noch mehr unter den Beschuß der mehrheitlich konservativ eingestellten Presse. Die Fachleute wiederum argumentieren, daß ein verbeamtetes England, denn darauf laufen ja alle Pläne der Regierung hinaus, kaum imstande sein wird, die internationale Wettbewerbsfähigkeit der britischen Wirtschaft zu erhöhen.

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