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Wilsons Optimismus

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In weniger als neun Monaten schwang das Stimmungspendel der Labour Party von selbstmörderischer Depression zu einem Taumel der Hochstimmung. Laut National Gal-lup Poll verloren die Tories seit April 12 Punkte, aus einer konservativen Mehrheit; von 4,5 Prozent wurde eine sozialistische Mehrheit von 7,5 Prozent. Der National Opinion Poll zeigt die Labours mit 3,2 Prozent im Vorsprung. Allerdings ist das Bild uneinheitlich, in 15 wichtigen Wahlkreisen fand eine Verschiebung zugunsten der Konservativen statt.

Wenn der gegenwärtige Trend anhält, kann die Labour Party mit einem Wahlsieg rechnen, würde morgen gewählt, wahrscheinlich mit einem Sieg wie 1966. Aber solche Dinge können sich sehr schnell ändern. Aus diesem Grund fixierte Wilson nicht nur einen außerordentlich knappen Termin mit einem Wahlkampf, der zum propagandistischen Sprint werden dürfte, sondern auch eine Sommerwahl, die seit jeher als überaus gefährliches Wagnis gilt.

Mit einem Aufholen der Labours war zu rechnen, der Standpunkt der Menschen sieht immer ganz anders aus, wenn es gilt, Regierungen zu wählen, statt nur zeitweiliger Unzufriedenheit Ausdruck zu geben. Labour macht jetzt eine sehr ähnliche Erfahrung wie die Tories in der Endphase vor der Wahl 1964, als Sir Douglas Home plötzlich zum Aufholen ansetzte, die ihm beinahe den Sieg gebracht hätte — um dann knapp geschlagen zu werden. Wilson und seine Partei ernten jetzt die Früchte ihres Mutes; nachdem sie unerschütterlich an einer unpopulären, wall Opfer fordernden Politik festgehalten hatten, können sie jetzt eine Reihe stolzer Ergebnisse vorweisen: eine sanierte Zahlungsbilanz, langsam aber sicher steigenden Lebensstandard, erhöhte Regierungsausgaben für Sozialleistungen. Die Konservativen sehen die Sache anders. In ihren Augen schlagen die Laibours jetzt Kapital aus ühran Versäumnissen, sie meinen, daß das Scheitern der sozialistischen Ein-kommenspolitik zu einer Welle von Lohnerhöhungen führte, die so lange populär sind, bis die Preise nachziehen. Wilson war in ihren Augen zwar unbarmherzig in Worten, aber ein Beschwichtigungshofrat in Taten, der es versäumt hat, der Ineffizienz der britischen Industrie wirkungsvoll zuleifbe zu rücken. Psychologische Faktoren spielen mit, Wilson übernahm Harold Macmil-lans Vaterimage. Er vermeidet es wie dieser, sich auf feste Verpflichtungen für die Zukunft einzulassen, während er die Tories in eine Situation manövriert, in der sie Zielsetzungen preisgeben und dabei mehr neue Fragen provozieren als alte Fragen beantworten müssen. Die Sommerwahlen sind eine Par-forceangelegenheit, bedroht von allerlei Gefahren. Zündstoff liegt in Mengen herum. Die Preise könnten rascher steigen als erwartet. Die Unruhen in Nordirland könnten wieder aufflammen. Und nicht zuletzt: Der Besuch der südafrikanischen Krik-ketmannschaift könnte eine Krise herbeiführen, in der Wilsons väterliche Ruhe in Gefahr geriete. So bezieht er denn wohl einen guten Teil seines Optimismus aus der von Butler und Stokes veröffentlichten Analyse des Wählerverhaltens („Politischer Wandel in Großbritannien“), dliie eine europäische Entwicklung auch in Großbritannien diagnostiziert: Die sozialistischen Partelen werden reputable, akzeptable Regierungsparteien, die den „alten Kräften“ voraus haben, daß sie noch unverbraucht sind oder wenigstens wirken. Die Untersuchung zeigt, daß dabei die Verjüngung der Wählerschaft eine entscheidende Rolle spielt. Viel deutet darauf hin, daß auch im Wählerverhalten der Apfel nicht allzu weit von Stamme fällt. Dieser Theorie zufolge werden die Jungwähler, deren Eltern bereits 1945, 1950 und 1951 überwiegend für Labour gestimmt haben, die Heere der Labourwähler diesmal bedeutend verstärken.

Bliebe das unberechenbare Element, das immer wieder die überraschenden Umschwünge herbeiführt, die sich nachher interpretieren, aber nicht voraussehen lassen.

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