"Wir brauchen eine Reform"

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Parlamentarier Jean Wyllys im Gespräch über Brasiliens "plutokratische Elite", einen faschistischen Diskurs, das Erbe der sklaverei und korruption als strukturelles Problem.

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Parlamentarier Jean Wyllys im Gespräch über Brasiliens "plutokratische Elite", einen faschistischen Diskurs, das Erbe der sklaverei und korruption als strukturelles Problem.

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Jean Wyllys, Professor für brasilianische Kultur und Kommunikationstheorie, ist Parlaments-Abgeordneter der Partei PSOL (Partido Socialismo e Liberdade). Im Interview spricht er über Hintergründe und Folgen der aktuellen Krise in Brasilien.

DIE FURCHE: Was charakterisiert die Lage in Brasilien im August 2017?

Jean Wyllys: Wir haben eine illegitime Regierung, entstanden aus einem parlamentarischen Putsch. Ihr wirtschaftliches, politisches und soziales Programm hat nichts zu tun mit demjenigen, für das die Bevölkerung bei den letzten Wahlen stimmte. Die Arbeitsmarktreform beendet den Schutz der Arbeiterrechte, die Rentenreform wird eine soziale Tragödie. Eine Verfassungsänderung friert Investitionen in Gesundheit und Bildung auf 20 Jahre ein. Und als sei das nicht genug, ist es eine extrem korrupte Regierung.

DIE FURCHE: Wie zeigt sich das? Wyllys: Präsident Temer wird von der Staatsanwaltschaft der Korruption, Geldwäsche und Behinderung der Justiz beschuldigt. Nun hat, in einer noch nie dagewesenen Situation, die Mehrheit des Parlaments entschieden, dass der Oberste Gerichtshof daran gehindert wird zu ermitteln. Es wurde mitgeschnitten, wie Temer mit einem korrupten Geschäftsmann über Bestechungsgeld verhandelt. In jedem Land mit soliden Institutionen wäre er zurückgetreten oder des Amts enthoben worden. Umfragen zu Folge wollen mehr als 90 Prozent der Bevölkerung, dass er verschwindet.

DIE FURCHE: Ex-Präsident Lula wurde dagegen im Juli wegen Korruption verurteilt.

Wyllys: Eine strafrechtliche Verurteilung muss sich auf Beweise stützen, nicht auf politische Positionen. Nach meiner Ansicht, ebenso wie nach der vieler Juristen, gibt es gegen Lula keine Beweise. Ich denke, die Verurteilung hat mehr damit zu tun, dass ein bestimmter Teil der brasilianischen Politik Lula aus dem Rennen haben will, weil er die Umfragen zu den Präsidentschaftswahlen 2018 klar anführt.

DIE FURCHE: Wie ließe sich die Korruption in Brasilien bekämpfen?

Wyllys: Korruption ist kein rein individueller Akt, sondern ein strukturelles Problem, welches das politische und wirtschaftliche System involviert. Um sie zu beenden, müssen wir die Regeln in Politik und Wirtschaft verändern. Dazu braucht es eine tiefgreifende politische und institutionelle Reform. Meine Partei etwa akzeptiert keine Spenden großer Unternehmen für Kampagnen. Aber solche individuellen Gesten lösen kein systemisches Problem.

DIE FURCHE: Es scheint nun eine zunehmende Kluft zwischen der brasilianischen Rechten und der Linken zu geben.

Wyllys: Diesen Unterschied gab es immer, aber heute ist das Land mehr polarisiert. Vor allem nach dem parlamentarischen Staatsstreich, der Präsidentin Rousseff zu Fall brachte, wurde dieser Unterschied evident.

DIE FURCHE: Eine Konsequenz dieser Entwicklung ist die anstehende Kandidatur des ultrarechten Abgeordneten Jair Bolsonaro.

Wyllys: Bolsonaro ist ein Verteidiger der Militärdiktatur, er ist rassistisch, frauenfeindlich und homophob, mit einem karikaturesken faschistischen Diskurs. Er beinhaltet keinen einzigen Vorschlag, um die Probleme des Landes zu lösen. Leider ist er aus der tiefen politischen Krise des Landes hervorgegangen.

DIE FURCHE: Gibt es Parallelen zwischen Bolsonaro und den neuen rechten Bewegungen in Europa?

Wyllys: Ja, die gibt es. Wie sie benutzt auch Bolsonaro Vorurteile und Angst, um einen Diskurs des Hasses zu führen. Aber ich denke, die europäische extreme Rechte ist immer noch kultivierter. Marine Le Pen wirkt wie eine Friedensnobelpeisträgerin gegen Bolsonaro.

DIE FURCHE: Es ist noch nicht so lange her, dass es in Brasilien großen Optimismus und Vertrauen in die Zukunft gab. Was ist in den letzten Jahren eigentlich passiert?

Wyllys: Es gab in Brasilien immer eine Spaltung zwischen Kräften, die für eine Entwicklung sind, die alle Brasilianer involviert, und einer plutokratischen Elite, die um jeden Preis ihre Privilegien sichern will. Die Regierungen der Arbeiterpartei bewirkten wichtige Fortschritte. Aber sie irrten sich, weil sie dachten, ein Pakt mit ökonomischen Eliten und konservativen Kräften sei möglich, um ihre Regierungsfähigkeit zu garantieren. DIE FURCHE: Warum?

Wyllys: In einer Phase der wirtschaftlichen und politischen Krise taten sich ihre ehemaligen Verbündeten mit der rechten Opposition zusammen, um die Regierung Rousseff zu stürzen. Die Kritik an diesem strategischen Fehler der Arbeiterpartei ändert aber nichts daran, dass sie außergewöhnliche soziale Fortschritte bewirkte. Brasilien ist ein extrem ungerechtes Land, das die Erbschaft der Sklaverei-Periode trägt.

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