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Wir können nicht mehr zurück

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Als Amerika nach dem zweiten Weltkrieg dem zerstörten Europa durch den Marshallplan großzügig unter die Arme griff, stimmte die Berechnung der Ökonometer, da Europa trotz aller Verwüstungen über jahrhundertealte geistige und wirtschaftliche Strukturen, gelernte Arbeiter und berufstüchtige Unternehmer in großer Zahl verfügte und so das ganze Gefüge mit kräftiger Kapitalhilfe und einigen Anweisungen leicht wieder in Gang gebracht werden konnte. Alle diese Voraussetzungen aber fehlten in den meisten Entwicklungsländern, mögen ihre Oberschichten auch oft über eine hohe menschliche Kultur verfügen, die auch die breiten Volksmassen weitgehend geprägt hat. Aber es fehlen überall nicht nur die wirtschaftlichen Kenntnisse und Fähigkeiten zu einer Zivilisation nach europäischem Muster, sondern weitgehend auch die geistigen Voraussetzungen. Nun könnte man natürlich sagen, man solle diese Länder doch in Frieden und nach ihrer eigenen Art glücklich werden lassen. Wenn dies eine hohe Sterblichkeit bei großer Geburtenfreudigkeit bedeute, so sei es nicht gar so schlimm und habe durch Jahrtausende nicht das seelische und soziale Gleichgewicht dieser Menschen gestört. Das stimmt und das war auch bei uns im Altertum und im Mittelalter so. Aber diese Zeiten sind un-wicderbringbar vorbei, und das Rad der Geschichte“ läßt sich nicht zurückdrehen. Seit Jahrhunderten haben die europäischen Völker alle Erdteile erschlossen, das europäische Beispiel, die europäische Schule und die europäische. Hygiene zum eigenen Nutzen und Frommen und — wie sie meinten und meinen — zum Nutzen und Frommen der Eingeborenen in diese Länder getragen und das traditionelle Gleichgewicht der sozialen und vitalen Kräfte dadurch gründlich zerstört. Gerade die in den letzten Jahrzehnten ergriffenen menschenfreundlichen Maßnahmen zur weltweiten Seuchenbekämpfung haben zur demographischen Explosion, zur drohenden Bevölkerungslawine geführt. Wir können nicht mehr zurück, wir können nur vorwärts, die eine Welt menschlicher Solidarität und Freiheit, zu der um der Schöpfungsauftrag Gottes von Anfang an berufen hat, wirklich realisieren.

Was ist zu tun?

P. Lebret OP., einer der erfolgreichsten Pioniere echter menschlicher Entwicklungshilfe, hat in seinen vielen theoretischen und praktischen Arbeiten klar herausgestellt, daß es sich nicht in erster Linie um Kapitalhilfe und Industrialisierung handeln kann, sondern daß es auf die Entfaltung und das Wachstum aller Lebensbereiche des Menschen von der Wurzel her ankommt. Da die Hilfe der internationalen Organisationen nur allzusehr auf den wirtschaftlich-technischen Bereich beschränkt bleibt und die Hilfe der Oststaaten immer auch die ideologische Infiltration einschließt, ist es eine zeitgemäße Aufgabe der Christen, der Entwicklungshilfe jene Orientierung zu geben, die sie zum Dienst am Menschen erst befähigt. Die Entwicklung muß als ein Übergang von einer weniger menschlichen zu einer menschlicheren Daseinsstufe konzipiert werden, sie muß zusammenhängend und harmonisch alle Lebensbereiche des Menschen gleichzeitig umfassen und fördern und so ein neues dynamisches Gleichgewicht von Gesellschaft und Wirtschaft in den Entwicklungsländern schaffen, die ja bisher durch erstarrte Gesellschaftsformen und eine stationäre Wirtschaft gekennzeichnet sind. Als Motive unserer Hilfeleistung wollen wir die sogenannten „realistischen“ gewiß nicht übersehen oder gar leugnen. Politisch ist die Hilfe nicht nur wegen des weltweiten Konkurrenzkampfes zwischen Ost und West notwendig und von Chruschtschow auch als entscheidendes Agon um die Weltherrschaft während der Periode der friedlichen Koexistenz proklamiert worden. Sie wäre politisch auch notwendig, wenn es keinen Kommunismus und keine Gefahr der Weltrevolution gäbe, da die rasante Zunahme der Bevölkerung zusammen mit der bereits vorhandenen Unterernährung auch so über kurz oder lang zu weltweiten Verzweiflungsausbrüchen führen muß. Genausowenig läßt sich leugnen, daß die Entwicklungshilfe auf lange Sicht auch eine Notwendigkeit und Förderung für unsere eigene Wirtschaft bedeutet, die ja auf ständige Expansion angewiesen ist. So wie die sozialen Maßnahmen und die Lohnsteigerungen in unseren Ländern nicht nur der Verproletarisie-rung entgegenwirken, sondern auch die Ausweitung der Industrie und die Vollbeschäftigung dadurch ermöglicht haben, daß eben breite kaufkräftige Interessentenschichten heranwuchsen, so wird die europäisch-amerikanische Wirtschaft auf die großen und unaus-genutzten Bevölkerungsmassen der anderen Kontinente als Abnehmer nicht verzichten können, wenn sie endlich den Plafond der in den reichen Ländern' möglichen - Bedürfrrissteigerung erreicht hat.

Für den Christen aber müssen andere Motive maßgeblich sein. Für ihn handelt es sich in erster Linie um eine Frage internationaler Gerechtigkeit. Wir haben aus unserem Versagen in der Arbeiterfrage des 19. Jahrhunderts gelernt und wollen in der internationalen sozialen Frage des 20. Jahrhunderts aus den von uns laut proklamierten sozialen Grundsätzen des Naturrechts auch die Konsequenzen ziehen. Die Solidarität des Menschengeschlechtes war schon zur Zeit der griechischen Kirchenväter ein Grundanliegen und ist im Fall des ersten Adam und der Erlösung des gesamten genus humanuni durch den zweiten Adam begründet. Diese Kirchenväter haben auch bereits die Geschichte der Menschheit als einen auf die Fülle des Reiches Gottes hingerichteten Entwicklungs- und Erziehungsprozeß begriffen, eine Auffassung, die auch dem modernen Weltbild nahekommt und in die sich Entwicklungshilfe als christliche Aufgabe leicht einbauen läßt. Arbeit ist in dieser Sicht dann nicht bloß Plage und Sündenstrafe, sondern, mehr noch Teilhabe am Schöpfungswirken des dreifaltigen Gottes und damit komplementäre Ergänzung des betrachtenden und liebenden Gebetes. Gerade dieses noch in seinen säkularisierten Formen zutiefst im Religiösen verwurzelte Arbeitsethos ist es aber, was den Entwicklungsvölkern am meisten mangelt, um ihre Situationen zu meistern. Wir müssen diesen noch naturhaft religiösen Völkern diesen geistigen Untergrund liefern, sollen Kapital und Maschinen nicht wirkungslos bleiben. Es sind aber wieder nicht die internationalen Experten mit ihren KurzbesUchen und hohen Lebensansprüchen, die diese Haltung vermitteln können, sondern die Christen, die bereit sind, einige Jahre ihres Lebens in Hautnähe und Tuchfühlung mit diesen anderen Menschen zu leben und vorzuleben. Vorleben müssen sie eine selbstverständlich aus der Gottesliebe wirkende, den Nächsten liebende Existenz ohne viel Worte und ohne Proselytenmacherei und lautstarke Propaganda. Unsere Helfer müssen wieder lernen, was es heißt, „Salz der Erde“ und „Licht der Welt“ zu sein und dabei nicht die Zahlen der Taufen und Bekehrungen zu zählen, sondern die Notlage des Menschen zu sehen, und in dieser Not des Fernsten Christus als Bruder zu begegnen und ihn zu lieben, bloß um dieser Brüderlichkeit willen.

P. Lebret und seine Leute

Die Christenheit Europas ist aufgebrochen, und überall regt sich neues Leben, auch auf dem Gebiet der Entwicklungshilfe. Das großartige christliche und menschliche Werk des P. L e b r e t und seiner Equipe „E c o-nomie et Humanisme“ habe ich bereits erwähnt. In vielen Ländern Südamerikas und Afrikas haben er und seine Leute schon umfassende Enqueten zur Inventarisierung der vorhandenen Hilfsmittel, Bedürfnisse und notwendigsten Maßnahmen veranstaltet. In einigen werden die ausgearbeiteten Pläne auch durchgeführt, so insbesondere in Senegal! Aus seiner Schule kommen mehrere französische Arbeitsgruppen, die beruflich und menschlich vielseitige Teams ausbilden, um in möglichst homogenen Regionen eine allseitige und harmonische Entwicklung von der Basis aus in Gang zu bringen, die vom Modellfall auf die ganze Gegend übertragbar und von den Menschen dieses Landes auch nachahmbar ist. so daß sie sich wie ein Ölfleck auf dem Wasser ausbreitet.

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