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Wir und der Marshall-Plan

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In allen europäischen Ländern ist das Wiederaufbauwerk in vollem Gange. Im Vergleich zum Jähre 1945 sind überall bereits erhebliche Leistungen vollbracht worden. Soweit es sich dabei um Länder handelt, deren Wirtschaft durch das Kriegsgeschehen unmittelbar getroffen wurde, haben die aus den verschiedensten Titeln, namentlich aber durch die UNRRA, durchgeführten Hilfslieferungen den Start wesentlicHerleichtert, ja vielfach sogar erst ermöglicht. Dies gilt im besonderen Maße auch für Österreich.

Nunmehr hat seit ungefähr einem halben Jahr das umfassende Konzept des Marshall- Plans die Fortsetzung dieser Hilfslieferungen auf weitere vier Jahre ermöglicht. Allerdings unterscheidet sich diese Hilfe in ihrer Zielsetzung sehr wesentlich von den Hilfsleistungen, die unmittelbar nach der Befreiung gewährt wurden. Nicht mehr der Alimentationsgedanke, sondern der Grundsatz der Leistung steht im Vordergrund. Die europäischen Länder, die am Marshall- Plan teilnehmen, sollen sich in ‘ erster Linie selbst helfen. Sie sollen alle Anstrengungen unternehmen, um ihre. Produktionskapazität wieder auf den normalen Stand zu bringen und in Einzelfällen auch auszuweiten, durch eigene Arbeit und durch eine sinnvolle, den geänderten Umständen Rechnung tragende Handelspolitik. Nur der ungedeckte Saldo, der sich trotz allen eigenen Anstrengungen dennoch ergibt — und der das Ausmaß der Verringerung der Produktivität der eigenen Wirtschaft veranschaulicht —, soll durch Hilfsleistungen der Vereinigten Staaten, die teils im Kreditwege und teils als Geschenk erfolgen, gedeckt werden. Hierin liegt der eigentliche Sinn des Marshall- Plans, der also zu gleicher Zeit eine Verpflichtung für die Teilnehmerstaaten darstellt.

Es ist bekannt, daß sich in der Zeit vor 1938, durch eine Reihe von Ereignissen bedingt und durch schwere wirtschaftspolitische Irrtümer gefördert, allmählich, und nicht nur in Europa, ein Protektionismus entwickeln konnte, der schließlich in seinen fatalen Wirkungen letzten Endes auf wirtschaftlichem Gebiet zu einem der Gründe, für den Ausbruch des zweiten Weltkrieges wurde. Heute besteht wohl gar kein Zweifel mehr darüber, daß das Pendel des Protektionismus in jener Zeit einen zu starken Ausschlag zeigte. Wenn Europa leben will, wird es künftighin die Dinge von einer höheren Warte aus betrachten müssen, und es wird notwendig sein, die große Fülle aller jener kleinlichen Erwägungen, die zum Aufbau des monströsen Schutzsystems geführt hatten, zurückzustel- 1 e n. Die Zusammenarbeit wird vertieft werden müssen, und es wird zweckmäßig sein, der zwischenstaatlichen Arbeitsteilung wieder in erhöhtem Maße Raum zu schaffen.

An einer solchen Entwicklung ist Österreich in höchstem Maße interessiert. Kein kleines Land ist in der Lage, eine Wirt-schaftspolitik zu betreiben, die sich an den Grundsätzen der Autarkie, in welcher Form immer diese getarnt sein mag, orientiert. Je kleiner ein Land ist, um so größer ist zwangsläufig seine Abhängigkeit vom wirtschaftlichen Geschehen des Auslands. Österreich steht denn auch, gemessen an der Außenhandelskopfquote, an dritter Stelle unter den Au ß e n h a n- delsl ändern Europas.

Schon in der Zeit vor 1938 hatte sich Österreich nach Kräften bemüht, an einer möglichst. freizügigen Außenhandelspolitik festzuhalten. Erst nach den Ereignissen des Jahres 1931 war es unter der Macht der Entwicklung in den angrenzenden und in den übrigen europäischen Ländern gezwungen gewesen, das Prinzip der Meistbegünstigung aufzugeben und zum Präferenzsystem überzugehen. Es war notwendig, aus der handelspolitisch trostlosen Situation das Bestmögliche herauszuholen. Dies konnte damals nur durch eine Verstärkung des zwischenstaatlichen Handelsverkehrs mit den unmittelbaren und mittelbaren Nachbarländern geschehen.

Man muß sich heute bewußt sein, daß die Voraussetzungen im Vergleich zu damals eine grundlegende und sehr bedeutende Änderung erfahren haben. Der Gedanke des Marshall-Plans hat eine Entwicklung, wie sie von Österreich im Interesse seiner Wirtschaft angesjtrebt werden muß, zur unbedingten Voraussetzung. Wohl mögen in den europäischen Ländern die Erinnerungen aus der Zeit der Absperrungspolitik noch nicht völlig überwunden sein, und es ist wohl auch kaum daran zu zweifeln, daß der psychologische Sieg über sie erst nach und nach errungen werden kann. Allein heute stehen nicht mehr die Vertreter jener Ideen, die in einer möglichsten Befreiung de Außenhandelsverkehrs eine zweckmäßige Entwicklung erblicken, den zahlreichen Verfechtern des Interventionismus allein gegenüber, sondern sie können sich auf die Grundsätze eines Plans berufen, dessen Wirken der beschleunigte Wiederaufbau Europas zu danken sein wird. Daher ist es eine Verpflichtung aller jener, die diese Problemstellung erkennen, vor allem aber der berufenen Außenhandelspolitiker, daraus die nötigen Konsequenzen zu ziehen und aktiv in das Geschehen einzugreifen.

Dies ist schon deshalb um so notwendiger, als sonst die eminente Gefahr entsteht, daß die Art der Durchführung dieses umfassenden Hilfswerkes die Verwirklichung seiner eigentlichen Zielsetzungen bedroht. Es liegt in der Natur der Sache, wenn große Geldbeträge, beziehungsweise Mangelwaren auf einzelne Länder, beziehungsweise in diesen wieder auf einzelne Wirtschaftszweige aufgeteilt werden sollen, daß planwirtschaftliche Grundsätze sich dieser Verteilung bemächtigen und damit nicht nur die Entfaltung der produktiven Kräfte in den einzelnen Ländern behindern, sondern darüber hinaus auch die Aktivität der Außenhandelspolitik lähmen. Für das Wirksamwerden solcher Kräfte entsteht um so mehr Raum, je geringer die eigene Kraft der Außenhandelspolitik ist und je mehr der Leistungsgedanke durch den Gedanken der Alimentation ersetzt wird. Diese Entwicklung führt so weit, daß von sonst durchaus einsichtigen Wirtschaftspolitiken! die These aufgestellt wird, Güter, die in den Vereinigten Staaten von Amerika bewirtschaftet sind, schon aus diesem Grund allein auch bei uns der Bewirtschaftung zu unterwerfen. Hier dokumentiert sich ein völliges Mißverständnis über die Art und den Umfang unserer gegenwärtigen Aufgaben. Die Hilfslieferungen dienen dazu, unserer Wirtschaft die Erlangung einer normalen Produktivität zu ermöglichen. Der beste Weg, der zu diesem Ziele führt, ist gerade gut genug. Wenn sich die Bewirtschaftung dabei als störend herausstellen sollte, so ist sie selbstverständlich zu beseitigen, ungeachtet des Umstandes, ob in anderen Ländern aus welchen Gründen immer eine solche für richtig und notwendig angesehen werden mag.

Aber nicht nur in der grundsätzlichen Einstellung zu diesen Zielen des Planes und den Notwendigkeiten, die sich daraus ergeben, auch in der konkreten Durchführung entstehen schwierige Probleme. Ein wesentliches Erfordernis besteht nämlich darin, daß die Wirksamkeit dieser Hilfslieferungen nicht durch ein allzu schwerfä 11 i g e s und zeitraubendes, womöglich noch unklares administratives Verfahren gehemmt wird. Man kann mit staatlichen Direktiven bestenfalls eine stationäre Wirtschaft, oder unter Umständen auch eine Wirtschaft im Kriege mit einiger Aussicht auf Erfolg schlecht und recht dirigieren. Man würde aber schwer Enttäuschungen erleben, wollte man in der Dynamik eines Wiederaufbaus einen ähnlichen Versuch unternehmen. Das Einspielen auf den neuen Zustand bedingt nämlich JO weitgehende Verschiebungen innerhalb der einzelnen wirtschaftlichen Bereiche, daß es als fast unmöglich bezeichnet werden muß, diese in einem Plan auch nur annähernd berücksichtigen zu können. Fehldispositionen größten Ausmaßes wären unvermeidlich und müßten zwangsläufig zu ein er höchst unrationellen Ver- wendung der dringend benötigten, Hilfsgüter führen. Nur wenn es gelingt, den wirtschaftlichen Kräften einigen Raum zur freien Entfaltung zu geben, wird man hoffen dürfen, den erwarteten Erfolg tatsächlich zu erreichen. Der weitestgehende unmittelbare Kontakt der Wirtschaft selbst mit den Möglichkeiten, die der Marshall-Plan bietet, also die weitestgehende Kommerzialisierung der Abwicklung wird daher unter allen Umständen anzustreben sein.

Nach dem ersten Weltkrieg haben die in Mitleidenschaft gezogenen Länder ihre wirtschaftlichen Nachkriegsschwierigkeiten lediglich im Wege von Anleihen überbrücken müssen. Sie waren im übrigen auf sich selbst gestellt. Die weitaus tiefergreifenden Wirkungen des zweiten Weltkrieges mit seinen ausgedehnten materiellen Zerstörungen hätten eine Gesundung auf diesem Wege voraussichtlich nicht ermöglicht. oder doch zumindest auf eine sehr weite Sicht erstreckt. Die Tatsache, daß daraus die notwendigen Konsequenzen gezogen wurden und durch ein bisher noch nicht dagewesenes Hilfswerk umfassenden Ausmaßes und zielführenden Konzepts die Wiederherstellung normaler wirtschaftlicher Bedingungen ermöglicht werden soll, verpflichtet aber in gleichem Maße alle teilnehmenden Länder, sich von den wirtschaftlichen Lenkungsmethoden der Zeit vor 1938 und namentlich der Nachkriegszeit allmählich zu befreien und für eine Intensivierung der wirtschaftlichen Verflechtung der europäischen Länder zu arbeiten. Es wäre ein großer Irrtum zu glauben, daß sich Österreich infolge der Kleinheit seines Territoriums dieser Verpflichtung ohne Einfluß auf die weitere Entwicklung entziehen könnte.

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