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III. Eine innerpolitische Bilanz

Infolge der heiklen geographischen Lage und der militärischen Schwäche Österreichs bildet die Koalition zwischen der Volkspartei und der Sozialistischen Partei nach wie vor eine Staatsnotwendigkeit. Ein Bündnis der Volkspartei mit den Freiheitlichen, wie es — offen ausgesprochen oder verdeckt angestrebt — manchen Kreisen vorschwebt, oder eine Kombination der Sozialisten mit der Rechtsopposition erscheint bis auf weiteres unwahrscheinlich; denn die parlamentarische Basis wäre viel zu klein und ein außenpolitischer Schwächeanfall unvermeidlich. Das größte Aktivum der Zweiten Republik bleibt noch immer die innere Einigkeit. Neben der gegenwärtigen „großen Koalition“, die sich auf 157 Abgeordnete und 3,88 Millionen Wähler stützt, liegt für Krisenzeiten im Bereich des Möglichen allenfalls eine Konzentrationsregierung unter der Voraussetzung, daß sich die Freiheitliche Partei ohne Vorbehalte zur Neutralitätsakte bekennt. Die Frage, warum unter diesen Umständen das Koalitionsprinzip immer wieder bemängelt und angegriffen wird, ist leicht zu beantworten. Die Opposition — acht Abgeordnete, unterstützt durch 0.34 Millionen Wähler — verfolgt die Taktik, einen Keil zwischen beide Regierungsparteien zu treiben, die dieses Spiel nicht stören, weil der Koalitionspartner vielleicht nervös und dadurch zum Nachgeben gezwungen wird. Trotzdem ist die Kritik am

Koalitionsausschuß gestiegen, der im Vorjahr einer Lähmung anheimfiel, so daß eine Reform im Wege einer Verstärkung des Parlamentarismus unvermeidlich wurde. Diese Wende rechtfertigt eine innerpolitische Bilanz.

ÖVP: Im Zeichen des „Länderkabinetts“

In der Volkspartei erfuhr während der vergangenen Jahre das Verhältnis zwischen den drei großen Bünden einen tiefgreifenden Wandel. Die Industrialisierung von Tirol und Oberösterreich hat die Bedeutung des Bauernbundes zurückgedrängt, der aber nach wie vor eine stabile und ausgleichende Kraft blieb. Im Wirtschaftsbund, der sich ursprünglich eher auf das Gewerbe gestützt hatte, erlangten Handel und Industrie ein bedeutendes Übergewicht. Der Arbeiterund Angestelltenbund steht wiederum vor einem neuen sozialen Problem. Ähnlich wie in allen Staaten Westeuropas führte der technische Fortschritt zum Ergebnis, daß sich viele qualifizierte Arbeiter in Angestellte mit höherer technischer Bildung verwandeln, die bürgerlichen und wirtschaftlichen Überlegungen zugänglicher sind als Hilfskräfte und manuelle Arbeiter. Vernachlässigt erscheint der Frauenbund, der als der „Vierte im Bunde“ über keinen nennenswerten Einfluß verfügt, obwohl von allen Wahlberechtigten auf die Frauen 55,9 Prozent und die Männer nur 44,1 Prozent entfallen. Die Sozialisten verfolgten seit jeher die Taktik, im Koalitionsausschuß die Vertreter der großen Bünde gegeneinander auszuspielen. Für die Parteileitung war es auch leichter, die Län-

der auf eine gemeinsame Linie zu bringen als die eigenwilligen Vertreter der Bünde und Kammern, zumal die innere Politik oft durch den kalten Krieg zwischen den Handelskammern und den Landwirtschaftskammern gestört wurde, die sich endlos um die Stellung und den Wirkungskreis der Genossenschaften stritten. Für die nächsten Parlamentswahlen, die allmählich in das Blickfeld rücken, ist jedoch die Koordination der Bünde in den Ländern von größter Wichtigkeit. Das Kabinett Gorbach, das man ruhig ein „Länderkabinett“ nennen kann, wird daher die Karte des Föderalismus ausspielen, die sich im Herbst bei den Landtagswahlen in Tirol und Oberösterreich bewähren soll. Die Rückwirkungen auf die Bundeshauptstadt sind allerdings problematisch; denn die Wiener empfinden jede Art von Föderalismus als Prestigeverlust,

SPÖ: Spiel mit vielen Bällen

Die Sozialistische Partei, die mit ihren Gewerkschaften und Arbeiterkammern ähnliche Schwierigkeiten erlebt wie die Volkspartei mit ihren Bünden, geriet durch das Temperament der neuen Parteileitung in eine widerspruchsvolle Situation. Nachdem man zuerst den radikalen Kulturkampf eingestellt und eine Revision des überholten Linzer Programms durchgeführt hatte, um in den Augen des Mittelstandes als harmloser Bewerber zu erscheinen, wurden später der Zentralismus, das Managertum und die Propaganda für Lohn- und Gehaltserhöhungen ohne Unterlaß maßlos übertrieben, bis man in einer Defizitwirtschaft landete. Über die Art, wie der Fiskus die Fehlbeträge deckt, möge sich, wie die Sozialisten sagen, die für das Finanzressort zuständige Volkspartei den Kopf zerbrechen. Es entstand die Groteske, daß die Sozialisten erhöhte Staatsausgaben erzwangen, um Wähler zu gewinnen, aber das Defizit trotzdem zu einer neuen Agitation gegen die Volkspartei mißbrauchten, der von der Öffentlichkeit innere Schwäche vorgeworfen wurde. Wie reagieren aber die Wähler auf diesen Trick? Schon die Spekulation, im Vertrauen auf die Landflucht und die Motorisierung eine „Eroberung des Dorfes“ im Sturm durchführen zu können, ist gescheitert. Auch die sozialistische Internationale hat ihren Nimbus eingebüßt. Im Westen und Norden Europas befinden sich die Sozialisten entweder in einer ewigen Opposition oder haben sich schon vor Jahren in echte Regierungsparteien verwandelt, so daß die Internationale nur als Kontaktkomitee zur gegenseitigen Information amtet. Neuerdings diskutiert man die Frage, ob die Hochkonjunktur, die im Prinzip die bürgerlichen Gesichtspunkte rechtfertigt, den Sozialisten nützt oder schadet. Wahrscheinlich hat die günstige Wirtschaftslage auf die parteipolitische Gliederung der Bevölkerung überhaupt keinen Eirvfluß. Die-rvon niemand bestrittene Unruhe unter den alten Parteimitgliedern begünstigt vielleicht eine gelegentliche Wahlenthaltung, führt aber kaum zu einer wirklichen Abfallbewegung. Dagegen besteht die Möglichkeit, daß viele ehemalige „Unabhängige“, die in Massen zu den Sozialisten übergelaufen sind, der linken Koalitionspartei demnächst den Rücken kehren.

FPÖ: Wo liegt der geistige Schwerpunkt?

Als isolierte Erbin und Trägerin des großdeutschen Gedankens dürfte sich die Freiheitliche Partei im Laufe der Zeit die gleiche Wählerzahl und Fraktionsstärke sichern, wie in der Ersten Republik die Großdeutsche Volkspartei. Die Opposition leidet jedoch an einem inneren Zwiespalt. Sie möchte einmal in die Regierung eintreten, kann aber nicht über ihren eigenen Schatten springen. Der Umstand, daß der geistige Schwerpunkt ihres Anhangs außerhalb des Landes liegt, führt dazu, daß jede Einzelfrage aus der Perspektive Westdeutschlands betrachtet wird, obwohl sich die Politik Österreichs und der Deutschen Bundesrepublik überhaupt nicht ver-

gleichen lassen. Den besten Beweis bot die jüngste Kampagne gegen die Konvention von Stockholm. Bisher zog nämlich gerade der österreichische Export die größten Vorteile aus der Freihandelszone, die heute einen Markt von 92,4 Millionen Einwohnern und 29 Prozent der Bevölkerung des freien Europa umfaßt. Solange jedoch die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft auf der Achse Bonn—Paris ruht und auch verschiedene politische Ziele verfolgt, wird der Brückenschlag, um den sich Bern, London und Stockholm fortlaufend bemühen, einigermaßen schwierig sein. Aber gerade die Integrationskrise übt einen pädagogischen Zwang, den handelspolitischen Aktionsradius zu vergrößern. Die Freiheitliche Partei wird erst dann zur Einsicht kommen, daß ihr Negativismus auf falschen Pfaden wandelt, wenn sie den Wahrspruch eines Julius Raab beherzigt: „Deutsch ist meine Muttersprache, Österreich mein Vaterland!“

Die Frage des kommunistischen Grundmandats

Wenn die Bundesländer im Augenblick von einer kommunistischen Agitation größeren Stiles verschont sind, verdanken sie diese Ausnahmestellung ihrer Immunität gegen den Kommunismus. Nach den Ergebnissen der Wahlen zum Landtag der Steiermark ist allerdings damit zu rechnen, daß infolge der Vorgänge in verschiedenen Industriezentren die äußerste Linke demnächst wieder einige Vertreter in den Nationalrat entsendet. Manche Politiker halten ihre Anwesenheit im Parlament sogar für nützlich, damit die kommunistische Gefahr nicht glattweg vergessen werde. Anderseits kann bei der geographischen Lage der Bundeshauptstadt auch eine leichte kommunistische Expansion bald einen gefährlichen Charakter annehmen. Solange Österreich noch Reparationen an Rußland leistet, dürfte die Ruhe auf der äußersten Linken vermutlich andauern. Trotzdem ist eine weitere innere Konsolidierung unerläßlich. Die sozialistische Parteileitung hat den Abwehrkampf gegen die Kommunisten zwar nicht völlig eingestellt, aber doch weitgehend abgebaut, in der falschen Hoffnung, etlichen linksradikalen Wählern den Übergang in das sozialistische Lager zu erleichtern. Wesentlich bleibt, daß der abermalige Erwerb eines Grundmandats durch die Kommunisten die Konstellation zwischen den anderen Parteien beeinflussen und einen neuen Faktor der inneren Unsicherheit darstellen könnte.

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