Worum es jetzt geht

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Die Flüchtlingskrise ist nur eine, freilich besonders dramatische, Facette einer tiefen Identitätskrise Europas. Antworten abseits des Mainstreams fehlen indes weitgehend.

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Die Flüchtlingskrise ist nur eine, freilich besonders dramatische, Facette einer tiefen Identitätskrise Europas. Antworten abseits des Mainstreams fehlen indes weitgehend.

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Man kann Hebbels Satz von der "kleinen Welt" Österreich, "in der die große ihre Probe hält", auch anders, weniger schmeichelhaft, lesen: das Land, in dem die großen Probleme der Zeit ins Lächerliche verzerrt werden. Was sich allein in den letzten Tagen und Wochen innenpolitisch zur Causa prima, der Flüchtlingskrise, abgespielt hat, spottet jeder Beschreibung: vom Streit über Begriffe ("Zaun", "technische Sicherung", "besondere bauliche Maßnahmen", "Türen mit Seitenteilen" ...) bis hin zur bizarren Pressekonferenz nach dem dieswöchigen Ministerrat ("zwei Wahrheiten, die sich an sich nicht entgegenstehen").

Es wird hier freilich nur das gesamteuropäische Drama gewissermaßen zur Kenntlichkeit entstellt. Denn auch außerhalb Österreichs scheint es an den politischen Schalthebeln kaum Leute zu geben, die imstande wären, die historische Herausforderung zu begreifen, vor der Europa steht. Eine Herausforderung, welche nicht erst die durch die Flüchtlingskrise gegeben ist, wohl aber durch diese existenzielle Dringlichkeit bekommen hat.

Verlorene Selbstachtung

Es geht um nicht weniger, als um die Frage, ob dieses Europa noch willens oder fähig ist, sich selbst zu definieren, ideell wie konkret. Ob es also die Kraft zur Selbstbestimmung aufbringt, was immer auch mit Grenzziehungen verbunden ist. Erst Grenzen verleihen Konturen, Grenzkontrollen sind daher ein Akt der Selbstachtung. Wer ersteres aufgibt, verliert letzteres. Vielleicht aber ist es mindestens ebenso umgekehrt: Kontrollverlust/-verzicht an den Grenzen als Ausfluss verlorener Selbstachtung. Es spricht jedenfall einiges dafür, die Flüchtlingskrise nur als Symptom einer viel tiefer gehenden, geistigen Identitätskrise Europas zu begreifen. Griechenland, Großbritannien, Russland stehen gleichsam als Chiffren für andere Facetten dieser Krise.

Man muss freilich sagen, dass es neben einer nach wie vor weit verbreiteten saturierten Gleichgültigkeit eine durchaus rege linke Gegenbewegung gibt, die aus dieser vielfältigen Krise neue Kraft schöpft beziehungsweise sie in ihrem Sinne zu nutzen versteht. Eine ihrer Ikonen ist der ehemalige griechische Finanzminister Yanis Varoufakis, der erst kürzlich an der Wiener Wirtschaftsuniversität (und in Folge natürlich vom ORF) gefeiert wurde.

Das ist völlig in Ordnung so und man muss dieser neu erwachten alten Linken dankbar sein, dass sie mit offenem Visier kämpft und aus ihren Absichten kein Hehl macht: den, wie sie es gerne nennen, "Austeritätsirrsinn" beenden, die EU (noch mehr) zur Transferunion umgestalten, weitestgehende Entgrenzung sowohl in der Migrations- als auch in der Gesellschaftspolitik etc. Kurz gefasst, auf dem Programm steht die "Neuerfindung des Sozialismus", denn es geht immerhin um "Sozialismus oder Zerfall" (© A. Thurnher).

Schäuble und Kurz

Warum aber setzt die bürgerlich-liberalkonservative Seite dem so wenig entgegen, weshalb diese Mutlosigkeit, woher die Artikulationsschwäche? Wenige Ausnahmen gibt es hier - europaweit und in Österreich. Einer von ihnen ist der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble, ein anderer der österreichische Außenminister Sebastian Kurz. Letzterer war so ziemlich der einzige österreichische Spitzenpolitiker, der in der Flüchtlingsfrage klar Position bezogen und erkennen lassen hat, dass er die Dimension der Problematik erfasst hat (sehr im Unterschied etwa zum jüngsten jämmerlichen Geschwurbel seines Parteichefs in der ZIB 2, welches auch in der Langversion in der TV-Thek nicht besser wird ...).

Für die kleine österreichische Welt: Dieser Kurz ist nun auch Präsident der Politischen Akademie der ÖVP. Das könnte der Ort sein, um einen Gegenentwurf zur "Neuerfindung des Sozialismus" zu formulieren: von der Asyl- über die Europa-, Wirtschafts- und Sozial-bis zur Bildungs-, Gender- und Biopolitik.

rudolf.mitloehner@furche.at

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