6743933-1966_52_05.jpg
Digital In Arbeit

Wünsche in letzter Stunde

Werbung
Werbung
Werbung

Wer erinnert sich wohl noch der Weihnachtszeit vor 20 Jahren? Es ist gar nicht eine solche Ewigkeit her, und doch scheint es uns heute eine fast unvorstellbare Welt. Es gab keinen Lichterglanz, eine Kerze war kostbar wie ein Schatz. Es gab kein Festessen, bestenfalls gab es einen Sonderaufruf für den hungernden Normalverbraucher. Wie armselig waren die vorweihnachtlichen Tage an äußerem Glanz. Aber wir glaubten, gelernt zu haben. Menschen aller sozialen Schichten, der verschiedensten politischen Anschauungen reichten sich über das Trennende hinweg die Hände. Die Friedensweihnacht dieser Nachkriegszeit war ein Symbol für den neuen Geist, der dieses Österreich fortan regieren sollte. In diesem Geist gingen frierende und hungernde Menschen daran, ein Aufbauwerk zu vollbringen, das man mit Recht als kleines österreichisches Wunder bezeichnen kann. So verstanden wir Weihnachten vor 20 Jahren.

Wohin ist zwei Jahrzehnte später die Erkenntnis entschwunden, daß nie mehr das Trennende vor dem Gemeinsamen stehen soll? Die beiden großen Parteien stehen sich im öffentlichen Leben als Regierung und Opposition gegenüber. Ich habe mich in guten und schlechten Zeiten zur Zusammenarbeit zwischen den beiden großen politischen Lagern bekannt. Ich glaube, daß der soziologische Stellenwert der Koalition im Strukturwandel der österreichischen Gesellschaft viel zuwenig erkannt wurde. Ich habe aber auch schon zur Zeit der Koalition davor gewarnt, jene zu verteufeln, die für die Auflösung dieser Zusammenarbeit plädierten. Das Ablösen der Koalition durch ein Wechselspiel von Regierung und Opposition ist genauso ein legitimes Anliegen im Rahmen der Demokratie gewesen als der Wunsch, die Koalition fortzuführen. Die für die Beendigung der Koalition eintraten, haben die Nationalratswahlen 1966 gewonnen. Ein Demokrat hat die Entscheidung der Mehrheit zu respektieren. Es wäre nun falsch verstandene Demokratie, zu meinen, der Parlamentarismus sei nun eine Abstimmungsmaschinerie, in welcher die Mehrheit die Minderheit niederstimmt, ohne auf Vorstellungen der Opposition auch nur ein- gehen zu brauchen. Es wäre völlig falsch verstandene Opposition, die gemeinsame Basis, welche demokratische Regierung und Opposition erst ermöglicht, zu zerstören. Demokratische Abstimmung setzt voraus die Einigkeit über die unabstimmbaren Werte, zu der sich alle demokratischen Parteien zu bekennen haben. Es scheint uns dabei nicht entscheidend, ob man sich zu jenen unabstimmbaren Werten aus religiösen, ethischen, philosophischen oder anderen Motiven bekennt. Das muß ln einer pluralistischen Gesellschaft dem einzelnen überlassen bleiben. Entscheidend ist aber, daß Regierung und Opposition in allen ihren Handlungen und auch in den härtesten Auseinandersetzungen sich der Verantwortung um das Gemeinsame, die Wahrung und Sicherung der menschlichen Grund- und Freiheitsrechte bewußt sind. Wir hoffen, daß zu diesem Gemeinsamen nicht nur das Bekenntnis zur Freiheit, zur Humanität und zur Demokratie zählt, sondern sehr konkret auch das Bekenntnis zur Republik Österreich. Es wäre für eine Opposition vielleicht manchmal verlockend, billige Popularitätsschinderei zu betreiben, in der Hoffnung, daß dies Stimmen- und Mandatsgewinn bringe. Wichtiger als der Gewinn oder Verlust von ein oder zwei Mandaten ist Österreich. Es mag für die Regierenden, die Macht ausüben wollen, manchmal im Interesse ihres Machtstrebens liegen, Alleinregierung zum Ausbau eines Machtmonopols zu benützen. Hätte es aber Sinn, wenn es wieder nur um den Preis möglich wäre, eine Politik zu führen, die bei einem Staat, den keiner will, enden müßte?

Zur Krippe her...

Wir wollen es aber uns selbst und dem österreichischen Volk nicht so leicht machen, daß jemand glauben könnte, die Weihnachtsbotschaft 1966 richte sich in erster Linie und fast ausschließlich an die politisch Verantwortlichen, an die Parteien und sonstigen Machtverbände. „Zur

Krippe her kommet“, dieser Ruf hat in einem Jahr der Bauskandale, der Müllner-Affäre und anderer wenig erfreulicher Erscheinungen einer entarteten Konsumgesellschaft einen makabren Klang. Unter „Krippe“ verstehen allzu leicht manche nur mehr die Futterkrippe, um die man sich drängt, um herauszuholen, was geht. Drohen nicht bei uns allen in diesen Weihnachtstagen die Geschenke das Wichtigste zu werden? Geschenke können ein Ausdruck der Freude und des Fneude-bereiten-Wollerns sein, das so verstandene Sichbeschenken kann nur bejaht werden. Aber wieviel wird heute aus Repräsentationsverpflichtung geschenkt, mit der kleinen Nebenabsicht — von dem könnte ich einmal was brauchen. Wie viele nehmen Geschenke an, ohne sich zu freuen, im Gegenteil, man überlegt schon, gegen was man das Umtauschen wird. Je mehr es uns gut geht, um so leichter werden wir alle Egoisten.

Wir erleben vielleicht nie so sehr wie zum Weihnachtsfest, daß materielle Bedürfnisbefriedigung allein nicht glücklich macht. Selbst kommunistische Theoretiker beginnen sich auf einmal mit der Frage des menschlichen Glücks zu befassen. Der Ostblock hat die Produktionsverhältnisse total geändert. Stimmte die Lehre vom geistigen Überbau und ökonomischen Unterbau so, wie es Vulgärmarxisten den anderen einzureden versuchten, müßte in den kommunistischen Staaten schon längst ein neuer Mensch entstanden sein. Wir in Österreich haben aber gar keinen Grund, zu triumphieren, daß dem offensichtlich nicht so ist. Sind wir nicht selbst, ob wir uns politisch zur ÖVP oder SPÖ oder sonst einer Partei bekennen, in manchen Dingen nicht auch Vulgärmarxisten? Der Kampf um die Erhöhung des Lebensstandards ist sicherlich richtig und gut. Man kann sich nur freuen darüber, wenn immer mehr Menschen auch in unserem Land Weihnachten in einer gewissen materiellen Geborgenheit feiern können. Aber Wohlfahrtsstaat ist nur Voraussetzung und nicht Ziel einer humanitären Politik, genauso wie ein Gabentisch Teil der Weihnachten, aber niemals die Erfüllung des Weihnachtsfestes sein kann. Wir dürften in den letzten Jahren wohl auch gelernt haben, daß Sattsein nicht automatisch Menschsein bedeutet. Es war in den harten Jahren nach 1945 wahrscheinlich sogar leichter, menschlich zu sein. Denn wo die Menschen aufeinander angewiesen waren, wo sie nur zusammen überleben konnten oder gar nicht, ist Brüderlichkeit zwar auch keine Selbstverständlichkeit, gibt es auch menschliche Bestialität, aber es ist weniger schwer, ein Fest der Nächstenliebe zu begreifen. Brüderlichkeit wird immer noch von den Armen leichter praktiziert als von denen, für die es nicht einmal ein persönliches Opfer bedeutet.

Das bißchen Lebensstandard, das wir in den vergangenen zwei Jahr zehnten erwerben konnten, sollte uns nicht vergessen lassen, daß an der Wiege unseres Wirtschaftswunders zwei Dinge Pate standen, die manche jetzt belächeln: Opferbereitschaft und Idealismus. Es hat damals niemand gefragt, was bringt mir dieses oder jenes. Wir wußten, kurzfristig kann uns unsere Arbeit und Einsatzbereitschaft gar nichts bringen, aber irgendwann wird sie sich bezahlt machen. Ich weiß nicht, ob wir nicht 1966 schon in eine Situation hineingekommen sind, die sich viel klarer noch in den kommenden zwölf Monaten zeigen wird, die Ellbogentechnik, die Brutalität, nen, wenn wir uns noch einmal zu dieser Haltung der ersten Nachkriegsjahre auf raffen. Wir haben inzwischen die Konsumweihnachten kennengelemt.

Das ewige Wunder

Lebe ich aber nicht selbst in einer Illusion? Warum sollten denn Menschen zu Weihnachten auf einmal solche Probleme wälzen? Warum lächeln denn die Skeptiker, die Realisten und Praktiker über ihren eigenen Kinderglauben? In Wirklichkeit siegt eben nicht das Licht, die Güte, die Nächstenliebe, sondern die Ellbogentedhnik, der Brutalität. Das ist der letzte Grund, warum Weihnachten für viele nicht mehr als eine Stunde der Besinnlichkeit ist, in der man sich absentiert vom wirklichen Leben. Was ist aber Wirklichkeit? Diktatoren, die meinten, sie könnten das Weihnachtslicht mit einem kräftigen Atemzug auslöschen, sind längst Geschichte, sie haben keine Macht mehr. Aber der Kerzenschimmer leuchtet durch die Jahrhunderte. Das Wunder der Menschwerdung hört nicht auf in einem Zeitalter, da die Neonröhren den Kerzenschimmer zu überstrahlen drohen. Ist es nicht schon ein Wunder, daß es im Zeitalter der Weltraumfahrt, der Automation immer noch Sehnsucht nach Weihnachten gibt? Ist es nicht ein Wunder, daß 1966 in der grauenhaften Unbarmherzigkeit des Vietnamkrieges zu Weihnachten wenigstens für einige Stunden die Waffen schweigen werden? Weihnachten gibt den Mut zu jener Utopie, ohne die auch keine politische Bewegung Zukunft gestalten kann. Die Praktiker sind in Wirklichkeit die Träumen und die Träumer sind die Realisten. Uns fehlt in der österreichischen Demokratie nichts so sehr als der Mut zu einer Zukunftsvision. Wir alle brauchen mehr als alles andere den Mut zum Gutsein. Wir fürchten uns, belächelt zu werden, weil wir Träume haben. Hoffentlich haben wir Träume, allerdings nicht im Sinne einer Traumfabrik nach Schema Hollywood, sondern das Bild von einer besseren Welt, die wir zwar nie hundertprozentig verwirklichen werden, denn es gibt keine vollkommene menschliche Ordnung, aber die uns als Leitstern das Ziel anzeigt, dem wir Jahr für Jahr ein Stück näherkommen, wollen. Wer eine solche Zukunftsvision hat, hat ein Weltbild, und weil er ein Weltbild hat, hat er eine Weltanschauung. Im politischen Leben sind wir so stolz auf die Entideologisierung, auf die Versachlichung, auf den Realismus und auf den Rechenstift, auf die Statistik.

Ein Weihnachtswunder scheint da gar keinen Platz zu haben, das gehört in ein ganz anderes Reich. Wir sind der Meinung, daß diese angeblich realistische Vorstellung falsch ist. Ideologie und Sachlichkeit gehören zusammen. Realist ist nur der, der um sein Leitbild weiß. Nicht die Skeptiker, Praktiker oder Opportunisten gestalten Geschichte, sondern jene, die trotz allem Wenn und Aber, trotz Irrtümern, Rückschlägen und Fehlern glauben, daß es Sinn hat, sich ein Leben lang zu bemühen, Gutes zu tun und gut zu sein. Wenn wir das verstanden haben, dann wird es in Österreich zwar weiterhin Rote und Schwarze, Grüne und Violette, Menschen mit den verschiedensten Standpunkten geben, aber sie werden nie mehr aufhören, eine Gemeinschaft zu sein im Zeichen jener Botschaft der Brüderlichkeit, die wir uns anschicken, auch in diesem Jahr zu feiern. Hoffentlich begreifen wir auch, daß eine zeitlos gültige Botschaft nicht nur an einem Abend Gültigkeit haben kann.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung