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Zell Pfarre/Sele Fara ist anders

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Die Kärntner Slowenen, eine der sechs in Osterreich als Minderheiten anerkannten Volksgruppen, sind nur eine von mindestens 250 Gruppierungen, die in Europa die nationale Frage zum Problem des 21. Jahrhunderts werden lassen.

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Die Kärntner Slowenen, eine der sechs in Osterreich als Minderheiten anerkannten Volksgruppen, sind nur eine von mindestens 250 Gruppierungen, die in Europa die nationale Frage zum Problem des 21. Jahrhunderts werden lassen.

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Zell Pfarre ist anders. Das kleine Dorf am Fuß der Koschuta hatte am 10. Oktober 1920 fast geschlossen für den Anschluß an den SHS-Staat gestimmt. Auch heute noch bekennen sich fast alle seine Einwohner - für die ihr Heimatort Sele Fara heißt - zur slowenischen Volksgruppe. Aber bei der Abstimmung im Vorjahr über Österreichs Beitritt zur EU stimmten hier 93 Prozent mit Ja

- in der Hoffnung, aus Brüssel Förderung zu erhalten.

Bürgermeister Engelbert Wassner sagt im Bückblick auf 1920: „Gott sei Dank, daß damals die Volksabstimmung für Österreich ausgegangen ist!” In dieser Zeit ging die Zahl der Einwohner von 1.800 auf 738 zurück

- es gibt hier oben keine Arbeitsplätze. Aber Wassner weist stolz auf das neue Gemeindehaus hin. Auch die Schule ist neu: Alle Kinder werden zweisprachig unterrichtet, müssen aber zur Hauptschule nach Ferlach, zum Gymnasium oder zur Handelsakademie nach Klagenfurt fahren. Auch dort bekommen sie slowenischen Unterricht.

Wenigstens eine zufriedene Minderheit?

Nach dem Ortstafelstreit von 1972 hat sich die Lage der Volksgruppe nach Wassners Ansicht merkbar verbessert, die Atmosphäre entspannt. Und bei den Feiern am 10. Oktober konnte in der Vorwoche erstmals ein Vertreter der Volksgruppe, Valentin Inzko, der unermüdliche Vorkämpfer der Aussöhnung, auf slowenisch zu den Ehrengästen sprechen. ^ Wenigstens eine Minderheit in Europa, die zufrieden sein kann? Was ist überhaupt eine „Minderheit”, eine „Volksgruppe”? Jeder Versuch einer Definition zieht das „Ja - aber” nach sich.

„Minoritäten in der Europäischen Union” war das Thema einer Tagung, die der „Club für Bildungs- und Wissenschaftsjournalisten” anläßlich des 75. Jahrestages der Volksabstimmung in Klagenfurt abhielt. Die nationale Frage wird zum Kardinalproblem des 21. Jahrhunderts werden, prophezeite Otto Habsburg, Abgeordneter im Europaparlament. Im 19. Jahrhundert war es die soziale Frage.

In Europa (bis zum Ural, also nicht beschränkt auf die EU) gibt es heute 36 Staaten mit mehr als einer Million Einwohner - das ist das einzig Eindeutige. Schon bei der Zahl der in diesen Staaten lebenden Völker kann der Präsident der Föderalistischen Union Europäischer Volksgruppen (FUEV), Professor Christoph Pan (Bozen/Innsbruck) nur mit „rund 70” antworten. Und bei der Frage nach den Volksgruppen in Minderheitensituation heißt es vage „250 bis 277, mindestens” ...

Pan definiert die Volksgruppe oder nationale Minderheit als „Gruppierung, die sich durch ethnische, kulturelle, sprachliche Kriterien von der Mehrheitsbevölkerung unterscheidet, die Staatsbürgerschaft des Wohn-Staates besitzt und gewillt ist, ihre Eigenheiten zu wahren und zu pflegen”. Der einzelne Angehörige sollte sich subjektiv zur Gruppierung bekennen.

Otto Habsburg unterscheidet zwisehen den autochthonen (historisch) gewachsenen Minderheiten und jenen, die durch Migration entstanden sind und ständig neu entstehen: Gastarbeiter, Asylanten, Flüchtlinge. Algerier in Marseille, Türken in Berlin, auch schon seit mehreren Generationen im Land - aber Anstoß für soziale Spannungen im Verhältnis zur einheimischen Bevölkerung.

Österreichs Slowenen, Kroaten und Magyaren hat der Artikel 7 des Staatsvertrags die Rechte garantiert. Tschechen und Slowaken in Wien sind seit dem Volksgruppengesetz als berechtigte Minderheit anerkannt, Roma und Sinti erst seit 1992.

Andere Staaten sehen das anders. Für Frankreich sind alle Resitzer der französischen Staatsbürgerschaft „Franzosen” - auch Elsässer, Algerier oder Bretonen. Auch Griechenland negiert die Existenz von Minderheiten - Türken, Slawo-Mazedonier, Aromunen.

So basiert auch die Liste der 277 Volksgruppen, die Pan in der FUEV erfassen möchte, auf den offiziellen Angaben der Regierungen - je nach nationalem Selbstverständnis und politischer Strategie. In Deutschland gibt es etwa Dänen in Schleswig, Sorben in der Lausitz und Friesen an der Waterkant - aber auch Polen im Ruhrgebiet, Einwanderer des 19. Jahrhunderts mit heute noch aktivem Eigenleben.

Andererseits meldet Polen zwölf, Ungarn 13 und Rumänien sogar 21 Minderheiten, was eher auf die Strategie der Zersplitterung hinweist.

Das Nationalstaatsprinzip vom „ethnisch reinen” Staat aller Angehörigen eines Volkes war von Anfang an eine Fehlentwicklung, die nirgends zum Erfolg geführt hat.

Die Versuche, das Nationalstaatsprinzip durchzusetzen, führten seit dem „Austausch” von Türken und Griechen 1922 über die Aussiedlung von Balten- und Bukowina-Deutschen 1940 und die Vertreibung der Sudetendeutschen und Donauschwaben 1945/46 bis zu den „ethnischen Säuberungen” im ehemaligen Jugoslawien, zu Verbrechen an der Menschlichkeit.

Franz Pähl, Vizepräsident der Regionalregierung Südtirol, setzt seine Hoffnungen auf das Konzept des „Europa der Regionen”, im konkreten Fall auf die Europa-Regierung Tirol - einschließlich des Trentino, des alten „Welschtirol”. Als Beitrag zur Gemeinsamkeit der drei Völker - und als Bremse gegen allfälligen Pangerma-nismus.

Volksgruppenvertreter gehören gewählt!

Polyethnische Bevölkerungen erfordern multinationale Staaten, erläutert Christoph Pan. Die Europäische Menschenrechtskonvention 1950 bedeutete eine Zäsur, der Europarat hat 1992 eine Charta für regionale und Minderheitssprachen und 1994 ein Bahmenabkommen für den Schutz nationaler Minderheiten angenommen. Sie bedeuten aber für Pan noch keinen echten Durchbruch in der Sache selbst.

Und dabei gäbe es ein durchaus gelungenes Beispiel zur Lösung von Minderheitenproblemen in der (alt)österreichischen Geschichte: der Mährische Ausgleich von 1905, der die Bechte der tschechischen Mehrheit wie der deutschen Minderheit festschrieb. Er hat seither mehrfach, etwa in Belgien, als Vorbild gedient, erinnert Otto Habsburg.

Doch zurück nach Sele Fara/Zell Pfarre. Hier, wo sich 1991 bei der Volkszählung 688 Bewohner als slowenischsprechend, 48 als deutschsprechend bekannt haben (und einer als Kroate) sitzen fünf Vertreter der SPO im Gemeinderat, vier der Ein-heitsliste/Enotalista, zwei OVP-ler und ein Freiheitlicher, „weil Jörg Haider die Jungen anspricht”, erklärt „Zupan” Wassner das Phänomen. Nach Wassners Worten sind die Menschen zufrieden mit dem, was sie erreicht haben. Wohl auch erreicht durch jene, die (noch) nicht zufrieden sind und offene Wünsche artikulieren. Für Karel Smolle braucht die Volksgruppe eine durch Wahlen legitimierte Vertretung. Seiner Ansicht nach sind die bestehenden Volksgruppen-beiräte durch die Art ihrer Bestellung höchstens Be-ratungs-, aber keine Vertretungsorgane. In Schleswig-Holstein sitzt ein Vertreter der Dänen im Landtag, unabhängig von der Anzahl der Stimmen, die für ihn abgegeben wurden. Warum nicht einen Minderheitenvertreter - ohne Bücksicht auf Sperrklauseln - in den Nationalrat, in die betroffenen Landtage wählen? Er könnte mithelfen, Emotionen auf beiden Seiten zu besänftigen, ohne der Mehrheit etwas zu nehmen.

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