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Zu früh für „Nachgaullismus“

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Die Tatsache, daß sich die französischen Mittelparteien —* Sozialisten, katholische Volksrepublikaner und Radikalsoziale — zu Verhandlungen über eine demokratischsozialistische Federation um einen gemeinsamen Oppositionskandidaten, Gaston Defferre, bereitfanden, war ein Süberstreif am politischen Horizont Frankreichs. Doch die Hoffnungen hatten getrogen. Defferre ist in seinem Unternehmen gescheitert, weil sich weder die Sozialisten noch die Volksrepublikaner als reif erwiesen, die unerläßliche strukturelle und psychologische Erneuerung zu wagen. Der Sog der Vierten Republik, mit ihrer egoistischen und individualistischen Parteienzersplit-

terung erwies sich als stärker denn alle Vernunft.

Da Gaston Defferre seine gesamte Doktrin auf der Voraussetzung einer umfassenden Reform aufbaute, die ihren Ausgangspunkt bei der Anerkennung gemeinsamer Grundziele der wichtigsten Mittelparteien hätte nehmen müssen, konnte die Eng- stirnigkeit, die den Parteiexponenten die Überwindung des Papiervorhangs verbot, logischerweise allein zum Verzicht auf seine Kandidatur führen. Es hat in den Stunden der Krise wohlmeinende Freunde gegeben, die den Bürgermeister von Marseille beschworen, einen Appell über die Parteien hinweg an das französische Volk zu richten, doch Defferre lehnte den Kampf gegen die Parteien als „faschistisches Abenteuer“ ab. Er wollte treu zu seinem Wort stehen. Und es steht außer Frage, daß der Verzicht sein Ansehen erhöht und seine politische Stellung gefestigt hat. Es ist nun erwiesen, daß es Ihm nicht um die Macht schlechthin gegangen ist.

Pinay oder Faure?

Um es gleich vorwegzunehmen: Noch sind nicht alle Hoffnungen begraben, daß im letzten Moment doch noch ein Oppositionskandidat der Mittelparteien gegen General de Gaulle oder einen von ihm benannten Kandidaten in die Arena treten könnte. Aber diese Hoffnungen sind gering. Vorerst sieht es so aus, als ob neben dem Riesen aus Lothringen nur noch einige politische Zwerge, deren Kandidatur einen fragwürdigen symbolhaften Sinn haben kann, auf der Bühne zu-

rückblieben. Die Zersplitterung — und die Dummheit, die ihr Pate steht — ist zu evident, als daß man von einer „Verkleisterung“ etwas erwarten könnte. Überdies beginnt nun jeder Tag zu zählen. Die Möglichkeiten einer Kandidatur Pinays oder Defferres haben einen mehr theoretischen Charakter. Während die Exponenten des Demokratischen Zentrums den ehemaligen Ministerpräsidenten Antoine Pinay bedrängen, zu kandidieren, versuchen die gemäßigten Linken den nach dem Ausscheiden Defferres entstandenen Hohlraum durch einen anderen geeigneten Kandidaten auszufüllen. Und hier wird der Name des Präsidenten der Radikalsozialen Partei,

Maurice Faure, am häufigsten genannt.

Pinay gilt als der Mann des Großkapitals, des Unternehmerverbandes und der gemäßigten Rechten. Viele Jahre wurde sein Mythos wachgehalten, in schwerer Stunde den Franc stabilisiert und Frankreich vom Druck der Inflation befreit zu haben. Er selbst hält diesen Mythos für So lebendig, daß er an den Verzicht de Gaulles auf seine Kandidatur glaubt, falls er selbst für das Elysee kandidieren sollte. Man ist geneigt, solche Vorstellungen als illusionär und verstiegen zu bezeichnen. Und doch geistern sie in oppositionellen Kreisen der Rechten herum. So versicherte uns Paul Reynaud erst vor kurzem, daß nach seiner Überzeugung eine etwaige Kandidatur Pinays einen so hohen Prozentsatz von Wählerstimmen auf sich vereinigen würde, daß der General aus Prestigegründen auf ein weiteres Septennat verzichten dürfte. Alle Versicherungen Antoine Pinays, daß er nicht daran denke, gegen de Gaulle anzutreten, werden ihm von seinen Freunden und Anhängern nicht geglaubt. Überdies gefällt er sich — nach gaullistischem Muster — in der Rolle der Sphinx. Am 20. Mai erklärte er dem Korrespondenten der südfranzösischen Zeitung „Nice-Matin“: „Ich habe nicht die Absicht, meine Kandidatur für die Präsidentschaft der Republik aufzustellen. Sollte jedoch Frankreich meiner bedürfen, so würde ich keinen Augenblick zögern. Das Schicksal meines Landes stellt alle persönlichen Fragen zurück. Ich bleibe ihm voll und ganz verbunden.“

Wer hat die größeren Chancen?

Ob Maurice Faure als Kandidat der Linken größere Aussichten hätte als Gaston Defferre, scheint er selbst stark zu bezweifeln. Nur eines gilt bereits als sicher, nämlich, daß er der nachdrücklichen Pression einer gemäßigten Koalition nicht wider-

stehen würde. Am 30. Juni erklärte er nach einer Sitzung des Parteibüros der Radikalen: „Gerüchte, die von meiner möglichen Kandidatur wissen wollen, sind im Augenblick ohne Grundlage. In jedem Fall dürften sie sehr verfrüht sein.. .'*

Maurice Faure hat vielen namhaften französischen Politikern voraus, daß er sich außenpolitisch besonders stark für die europäische Integration exponiert hat. Er ist ein kämpferischer Volkstribun mit hervorragenden Rednereigenschaften und starker Überzeugungskraft. Sein warmer, südfranzösischer Akzent vermag die Herzen der Zuhörer anzusprechen und sie leicht für seine Thesen zu gewinnen. Es wäre nicht ausgeschlossen, daß im Augenblick einer europäischen Krise, die die gesamte Existenz des Gemeinsamen Marktes zu bedrohen scheint, Männer wie Maurice Faure ein besonders starkes Gehör finden könnten, wenn man sich auch immer vor Augen halten muß, daß die personalpolitischen Entscheidungen Frankreichs seit vielen Jahrzehnten von der Außenpolitik unberührt bleiben. Auguren glauben jedoch, daß sich hier — nicht zuletzt durch das vornehmlich außenpolitisch betonte Wirken des Generals de Gaulle — eine grundlegende Wandlung anbahne.

Es werden im Juli einige Fragen, die noch offen stehen, zweifellos geklärt werden. Freilich dürften Pinay

Verlust der Mitte

Diese Demonstration wird die ihm verschworene Gefolgschaft um einen Teil derjenigen vermehren, die — von der ohnmächtigen Opposition enttäuscht — den Mittelparteien den Rücken kehren. Wenn aber 70 oder 75 Prozent des Volkes dem General ihre Stimme geben, so dürfte dies Ergebnis auch bei den allgemeinen Parlamentswahlen von 1967 seinen Niederschlag finden. Damit fände der Gaullismus für lange Zeit seine Sanktionierung.

und Faure — für den Fall, daß einer von ihnen kandidiert — bemüht sein, ihre Bereitschaft bis Oktober geheimzuhalten, um nicht vorzeitig einer wohlorganisierten und massiven Polemik zum Opfer zu fallen. Auch gibt es gewisse Anzeichen dafür, daß sich die Kommunisten gemeinsam mit der Sozialistischen Einheitspartei (PSU) bemühen werden, den Sozialisten einen gemeinsamen Volksfrontkandidaten zu entreißen.

Aber die öffentliche Meinung steht allen diesen Möglichkeiten nach dem Scheitern Defferres recht unlustig und uninteressiert gegenüber. Wenn einige politische Zeitschriften der Linken, wie „Express“ — er hat bekanntlich während vieler Monate zur Lancierung Defferres unter der Bezeichnung „Monsieur X“ beigetragen —, Elegien anstimmen und mit bitteren Vorwürfen an die Adresse der verantwortlichen Parteien nicht sparen, so vermag dies wenig an der Perspektive zu ändern, daß General de Gaulle sich nicht allein praktisch ohne Gegenspieler den Dezemberwahlen stellt; sondern seine These vom Fiasko des Parteienregimes und der parlamentarischen Demokratie glanzvoll bestätigt findet. Er könnte verkünden, daß Gaston Deferres Scheitern nun die Unmöglichkeit einer parteipolitischen Erneuerung in Frankreich unter Beweis gestellt habe.

Man fragt sich, ob die Sozialisten und Volksrepublikaner diese Konsequenz bedachten, als sie sich über den Kollektivismus und den Laizismus zerstritten. Der Kommentator des „Express“ stellt konsterniert fest, daß Mottet, der Defferres Projekt zu Fall brachte, nur an das Nationalkomitee der laizistischen Aktion und an seinen Posten als Generalsekretär der SFIO gedacht habe, während der Generalsekretär der MRP, Fontanet, die katholischen

Wähler im Elsaß und in der Bretagne im Auge gehabt und die Illusion genährt habe, nach dem Tode de Gaulies die Wähler der UNR (Gaullistenpartei) für die Volksrepublikaner zu gewinnen.

Die Bilanz ist für die Volksrepublikaner eindeutig negativ: Sie verloren einige ihrer wichtigsten Mitstreiter — Schatzmeister Andre Pairault und der Chefredakteur des Parteiorgans „Forces Nouvelles“, J.-P. Prevost, wurden ausgeschlossen, andere trennten sich freiwillig von der Partei, weil sie die Ablehnung des Föderationsprojekts durch die Parteileitung mißbilligten. Und für die Zukunft rechnet man mit einer Dreispaltung der MRP-Wähler. Die erste Gruppe würde traditionsgemäß für de Gaulle stimmen, die zweite würde auf irgendwelche andere Kandidaten ausweichen, um nicht für de Gaulle stimmen zu müssen, die dritte endlich würde auf einen demokratischen Kandidaten warten, der ihren Vorstellungen entspricht. Pftimlin, so wird berichtet, habe sich über den Bruch mit Defferre ausgesprochen zufrieden geäußert. Der „Express“ sagt dazu: „Der Bürgermeister von Straßburg bleibt seiner eigenen Logik treu: Er ist ein Christdemokrat rheinischer Prägung. Er glaubt nicht an die Zusammenführung von Familien. Er hält Frankreich für ewig — wie das Elsaß, die Christlichen Demokraten und die seit jeher bestehenden Gegensätze.“

Fazit: Die Stunde des Nachgaullismus hat noch nicht geschlagen. Die Parteien, die ihn hätten vorbereiten können, sind in ihrer eigenen Senili-tät steckengeblieben, und unter den alten Taktikern sieht man keinen am Horizont emporsteigen, der innerlich so frei wäre, als daß er über die traditionellen politischen Gruppen hinweg eine wirkliche demokratische Renaissance wagen könnte. Frankreich erscheint in letzter Zeit unentschlossener und politisch gelähmter denn je.

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