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Zukunftsmusik der Atomforscher

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Jeder, der jemals an einer größeren Tagung teilgenommen hat, weiß aus Erfahrung, daß man die schönsten Früchte weniger in den programmgemäß festgelegten Vorträgen und Dehatten pflückt, sondern sozusagen am Rande der Veranstaltungen in Begegnungen und Gesprächen mit Menschen, die ähnliche Probleme erwägen, ähnlichen Zielen nachstreben. So war es auch auf der soeben beendeten Riesenkonferenz der Atomforscher in Genf. Das offizielle „Ergebnis“ — eine Zusammenfassung der wichtigsten Forschungsveröffentlichungen und der sich daran anschließenden öffentlichen Debatten — wird in zehn bis zwölf Druckbänden herauskommen. Wertvoller aber noch dürften alle jene Anregungen, all die in Unterhaltungen am Seeufer, im Restaurant, auf Parkspaziergängen geborenen Ideen gewesen sein, die fast jeder Forscher aus Genf mit nach Hause nahm.

Auf d-l\, Rückseite von Speisekarten, auf Papierservietten, auf Tischtüchern, auf ausgerissenen Notizbuchseiten und am Rande von Vortragsmanuskripten stehen alle diese interessanten Gedanken, die nun in kommenden Monaten und Jahren am Schreibtisch, an der schwarzen Tafel und am Versuchsgerät im Laboratorium auf ihre Verwendbarkeit geprüft werden müssen. Ein paar von diesen jüngsten und noch nicht als mündig anerkannten Geisteskindern möchte der Berichterstatter' hier vorstellen.

Da ist zum Beispiel die „in den Wandelgängen“ des Völkerbundpalastes viel debattierte Möglichkeit, die Kernverschmelzung als Antrieb für Raumraketen zu benutzen.

Dieser Gedanke ist auf amerikanischer Seite bisher am eindrucksvollsten von dem ursprünglich aus Europa stammenden Dr. M. U. Clauser entwickelt worden. Er hat mit einer Fülle von technischen Details nachgewiesen, daß ein „Fusionsantrieb“ für Raumschiffe technisch durchaus zu verwirklichen sei. Eine solche Rakete würde nur fünf bis zehn Prozent der Brennstoffmengen mitschleppen müssen wie die bisher verwendeten „chemischen Raketen“. Auch die Russen scheinen, wie sie in privaten Unterhaltungen zu erkennen gaben, in ähnlicher Richtung zu arbeiten, wenn sie auch strikt leugneten, daß der enorm hohe Schub, den ihre bisherigen Raketen erreichten, bereits durch einen solchen Kernverschmelzungsantrieb hervorgebracht worden sei.

In eine zunächst ganz andere Richtung gehen Gedanken, die in Genf als Folge einer Reihe wenig beachteter Arbeiten der kalifornischen Wissenschaftler Dr. John Lawrence und Dr. C. A. T o b i a s gewagt wurden. Dieses Forscherpaar hat nämlich die enormen Energien, die in dem großen Zyklotron von Berkeley entwickelt werden können, in einem schmalen Strahl auf das Gehirn von Tumorpatienten oder Versuchstieren gerichtet und glaubt, auf diese Weise das Geheimnis der bisher experimentell kaum zugänglichen Region des Hypothalamus aufdecken zu können. Die Resultate sind vorerst noch höchst widerspruchsvoll. Einige der bestrahlten Ratten entwickelten als Folge der Behandlung unheimlichen Appetit, in anderen entstanden „chronische Leiden“, wie Athritis und Zuckerkrankheit. Es gelang, das Wärmezentrum des Körpers zu beeinflussen und willkürlich hohes Fieber oder Untertemperaturen zu erzielen. Ist hier ein Schlüssel für die spätere Heilung von Dauerleiden, für eine völlige Umstimmung aller metabolischen Körperprozesse oder gar mechanische Eingriffe in den Geist gefunden worden? Zunächst werden die gleichen beiden Forscher nun schon in den nächsten Monaten eine Spe-zialstudie über die möglichen schädlichen Einwirkungen kosmischer Strahlen auf das Nervensystem von Weltraumfahrern durchführen.

Großen Eindruck hat in Genf die Entwicklung der Anwendung von radioaktivem Spurmaterial (Isotopen) zum Studium und der Verbesserung erkennbarer biologischer und technischer Prozesse gemacht. Wer eine realistische Bilanz der Konferenz zieht, muß konstatieren, daß die auf Grund der Verwendung von Isotopen gewonnenen materiellen Vorteile bisher bei weitem die doch noch recht problematischen Fortschritte der Energieproduktion durch Atomspaltung überwiegen. Hier ist in aller Stille ein internationales Millionengeschäft gewachsen, das der Landwirtschaft und der Industrie außerordentliche Ersparnisse ermöglicht. Während in der ganzen Welt zusammengenommen bisher nicht mehr Atomstrom erzeugt wird, als eine normale Elektro-zentrale für eine Stadt von 200.000 Einwohnern hervorbringt, haben die Spurmaterialien tatsächlich schon eine „stille Revolution“ auf den Feldern und in den Fabriken bewirkt, von deren Ausmaß wir uns nur wenig Vorstellung machen. Wer mit Isotopenspezialisten in Genf sprach und sie nach Zukunftsperspektiven befragte, wurde mit einer ganzen'Reihe bisher allerdings erst geplanter -'Pßaazenarten und Maschinen bekannt gemacht, die auf Grund des „Röntgen- ' blicks“, den die Spurmaterialien ins-Innere von natürlichen und künstlichen Wesen erlauben, nun „entworfen“ werden.

Einen ähnlichen Einblick in völlig neue Möglichkeiten ergaben Gespräche mit Kerntheoreti-kem wie Feynman und Gell-Mann, die sich besonders mit dem Verhalten der Materie bei Tieftemperaturen beschäftigen. Demnach wird die „Kälteforschung“ — das Gegenstück also zum Studium gewaltiger Hitzen, wie es die „Fusionsspezialisten“ betreiben — unter anderem den Bau von „Elektronengehirnen“ in kleinstem Format gestatten, da bei sehr großen Kälten eine winzige, ganz neue Art von „Elektronenröhre“ funktionieren kann. Ueberhaupt, so wurde prophezeit, werde die jetzt erst sich öffnende Region der Tiefsttemperaturen Wissenschaft und Technik ganz neue Möglichkeiten eröffnen. Eine „Technik ohne Lärm, Gestank und Todesgefahr“, wie es einer meiner Unterredner formulierte, werde dann möglich.

Nicht nur wissenschaftliches und technisches Neuland wurde wenigstens in Gedanken beschritten, sondern auch politisches und moralisches. Auf der anderen Seite des Genfer Sees erklärte mir zum Beispiel der französische Abrüstungsdelegierte bei den Vereinten Nationen, Jules M o c h, seine Regierung hoffe, mit der Drohung „eine eigene Atombombe zu bauen“, lediglich einen Stop der Herstellung weiterer Atombomben1 zu erreichen. Bei den „Rencontres internationales de Geneve“ schlug der Belgier Maurice Lambillotte die Einrichtung eines aus Nobelpreisträgern bestehenden „Höchsten Gerichtes“ der Wissenschaft vor, an das sich jeder Forscher wenden könnte, der befürchte, seine Arbeit könne zum Schaden der Menschen verwendet werden. Schließlich hat ihr Berichterstatter, beeindruckt von der Großartigkeit der Atomausstellung, die nun leider wieder abgerissen werden muß, mit Erfolg die Idee der Gründung eines Atommuseums und eines Archivs der Atomgeschichte propagiert. Der Gedanke soll in naher Zukunft von einer internationalen Kommission der Atomforscher debattiert und hoffentlich auch verwirklicht*werden.

Die zweite Genfer Konferenz „Atom für den Frieden“ ist vorbei. Aber die zahllosen Samen, die hier gestreut,wurden, dürften schon in den nächsten Jahren aufgehen. Hoffen wir, daß darunter nicht zuviel Unkraut sein wird.

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