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Zur Bestimmung unserer Position

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Der Schluß eines Kalenderjahres bietet sich als Zeitpunkt an, die eigene Position wieder zu bestimmen, sich am Geleisteten aufzurichten, Kraft zu schöpfen und einen Maßstab zu finden für das noch zu Bewältigende.

Österreich lebt in Ordnung, Freiheit und Frieden eineinhalb Jahrhunderte nach dem Wiener Kongreß, der eine zerstörte Ordnung restaurierte, ein halbes Jahrhundert nach den Schüssen von Sarajewo, mit denen eine Ordnung einstürzte, 30 Jahre wiederum nach dem Bürgerkrieg, nach der Ermordung des Bundeskanzlers Dollfuß, ein Vierteljahrhundert schließlich — das abgelaufene Jahr war voller schicksalsschwerer Gedenktage — nach Ausbruch des zweiten Weltkriegs. Im kommenden Jahr wird die Zweite Republik zwanzig Jahre alt; sie hat damit das Alter erreicht, das der Ersten insgesamt beschieden war. Unabhängigkeit, Neutralität. und Freiheit Österreichs werden im gleichen Jahr auf einen zehnjährigen Bestand zurückblicken…

Unabhängigkeit — Neutralität — Freiheit: Diese Begriffe sind für Österreich seit dem Staatsvertrag eng miteinander verknüpft. Wir hätten unsere Freiheit nicht errungen, wenn .wir uns nicht aus freien Stücken zur Neutralität verpflichtet hätten; die Neutralität ist es, die unsere Unabhängigkeit zur Voraussetzung und zur Folge hat; und Neutralität und- Unabhängigkeit wären nichts ohne unser in Wort und Tat erklärtes Bekenntnis zur Freiheit.

Die weltpolitische Stellung Österreichs, die auf diesen drei Grundsätzen beruht, ist aber nicht die eines isolierten Gebildes, das ohne Rücksicht auf seine Umwelt sich selbst genügen kann. Wir sind , bemüht, den geographischen Raum um uns herum frei von Spannungen, frei von Krisen zu wissen. Als neutraler und zentraler Staat sind wir besonders interessiert, zu allen Nachbarstaaten gute und freundschaftliche Beziehungen zu unterhalten, die „gefährlichen“ Grenzen zu entschärfen und die Kontakte mit allen unseren Nachbarvölkern zu verstärken. Es ist für uns eine wesentliche Maxime unserer Außenpolitik, mit allen Großmächten, insbesondere mit den ehemaligen vier Hauptsignatarmächten des Staatsvertrages, ungestörte, von Komplikationen freie Beziehungen zu unterhalten. Wir Österreicher sind uns bewußt, daß die Neu- trglität nicht als bequemes Ruhebett empfunden werden darf, und wir haben in der Verfolgung unserer Neutralitätspolitik bisweilen nicht geringere Schwierigkeiten zu lösen als jene Staaten, die ihre Verpflichtungen aus einer Bündnispolitik zu erfüllen haben. Wir sind daher bereit, im Interesse der Aufrechterhaltung ungestörter Beziehungen zu allen Ländern, die unsere Neutralität anerkannt haben, auch materielle Opfer zu bringen, wenn diese dazu dienen, uns die Freiheit und der Welt den Frieden zu erhalten.

Es ist ein Grundsatz unserer Außenpolitik, der sich aus der Neutralität ergibt, daß wir Bündnissen militärischen Charakters nicht beitreten. Hingegen muß es Österreich unbenommen bleiben, mit den in Europa schon bestehenden oder in Entstehung begriffenen Integrationsgebilden Abmachungen und Vereinbarungen wirtschaftlicher Natur zu treffen. Es liegt doch im Interesse aller, daß das neutrale Österreich ein wirtschaftlich gesundes Land bleibt. Wir können die bestehenden ökonomischen Fakten nicht ändern.

Verständnis in Ost und West

Wir müssen um Verständnis in West und Ost dafür werben, daß Österreich für seine Waren und Industrieerzeugnisse auf die traditionellen Absatzmärkte nicht verzichten kann. Wir müssen um Verständnis dafür werben, daß die Erhaltung des heutigen Lebensstandards in unserem Land, die Sicherung der Vollbeschäftigung, das kräftige Wachstum unserer Wirtschaft abhängig ist von einer befriedigenden Regelung unseres Verhältnisses zum Gemeinsamen Markt. Wir müssen bei unseren Freunden, die Vertragspartner eines Vertrages besonderer Natur sein werden, um Verständnis für unsere besondere politische Lage werben. Sie dürfen und wollen von uns nichts verlangen, was mit der Fortsetzung unserer bisherigen Außenpolitik nicht vereinbar wäre. Nicht weniger bedürfen wir aber auch des Vertrauens jener Mächte, die an der Respektierung der österreichischen Neutralitätspolitik ein besonderes Interesse zeigen, denn wir sind uns vollkommen bewußt, daß die Neutralitätspolitik nur dann fruchtbar in den internationalen Beziehungen in Erscheinung treten kann, wenn sie vom Vertrauen aller getragen ist, die diese Neutralität anerkannt haben.

Die Entscheidung, wie unsere wirtschaftlichen Beziehungen zum Gemeinsamen Markt schließlich gestaltet sein werden, wird in Verhandlungen mit der EWG vorzubereiten und schließlich bei der Ratifikation des Vertragswerkes vom österreichischen Parlament in eigener Verantwortung zu treffen sein. Gerade die Dringlichkeit einer Klärung der offenen Fragen erfordert aber, daß es möglichst bald zu Verhandlungen mit der Sechsergemeinschaft kommt. Wir warten lange genug auf den eigentlichen Verhandlungsbeginn. Die Erteilung eines Verhahdlungsmandats an die EWG-Kommission erhoffen wir uns daher mit Recht für den Beginn des kommenden Jahres.

Wenn wir den Blick nun der Innenpolitik zuwenden, so haben wir das Jahr 1964 — ein großes Wahljahr der westlichen Demokratien — in Österreich als „kleines Wahljahr“ zu bezeichnen. Die Gemeindewahlen in Kärnten, die Landtagswahlen im Burgenland, in Salzburg, in Vorarlberg, in Niederösterreich und in Wien bestätigen im wesentlichen, was wir schon wußten: Die beiden Großparteien Österreichs müssen miteinander leben.

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