7089760-1994_25_05.jpg
Digital In Arbeit

Zurück in die russische Provinz

19451960198020002020

Alexander Solschenizyns Traum von einem „Dritten Weg” für Rußlands krisengeschüttelte Wirtschaft.

19451960198020002020

Alexander Solschenizyns Traum von einem „Dritten Weg” für Rußlands krisengeschüttelte Wirtschaft.

Werbung
Werbung
Werbung

Bevor er sein Exil in Vermont-Cavendish verlassen hatte, vertraute der große Dichter der renommierten Zeitung „Forbes” seine Pläne für die Neugestaltung Bußlands an. Er will nämlich nicht mehr schreiben, er will mitgestalten. Er mag den Weltkapitalismus nicht, den „Terror des Konsums”, die Konzentration der Wirtschaftsmacht der gigantischen Monopole, die „Jauche der Pop-Musik”.

Er ist auf der Suche nach einem anderen Weg für seine Heimat. Statt sich durch westliche Demokratievorstellungen und vom Großkapital „kolonisieren zu lassen, müßten die Provinz, die bäuerlichen und traditionellen Familienstrukturen wiederhergestellt und gestärkt werden”, wiederholte der Dichter den in seinem September-Manifest 1990 präsentierten Entwicklungsweg.

Werden die eisernen Gesetze der menschlichen Zivilisation für Bußland eine Ausnahme machen? fragten die Gesprächspartner. Der Zerfall der kommunistischen Alleinherrschaft und des Sowjetimperiums, die dramatischen Entwicklungen in Mitteleuropa lassen an irgendeinem, von den Regelmäßigkeiten der neuzeitlichen Marktwirtschaft entferntem Entwicklungsweg zweifeln. Solschenizyn ist nicht zu überzeugen, er will andere von seinen Reformideen überzeugen.

„Rußland ist fürchterlich krank, bis zur totalen Erschöpfung ist das russische Volk krank”, sagte er dem Interviewer. „Verlangt von uns nicht, um den Amerikanern zu gefallen, jedwede Spur der Achtung für unsere Sicherheit fallen zu lassen”, appelliert er an den „Forbes”-Redakteur.

Für die jetzige Misere macht Solschenizyn nicht nur die Altlast des Kommunismus verantwortlich, sondern die Reformpolitik der Regierung: „Seit einigen Jahren versuchen wir die Trümmer des Kommunismus abzuschütteln. Kurvenreich, ineffizient und opferträchtig ist aber dieser Weg, den wir eingeschlagen haben. Der einstigen kommunistischen Elite wurde Zeit genug geboten, ihre Masken zu wechseln. Einige von ihnen stülpten sich die Maske von Demokratie auf, andere betätigten sich als Geschäftsleute. Ihre Kommandoposten haben sie aber sowohl in Moskau als auch in der Provinz bewahrt.”

Jegor Gaidars Reformpolitik kritisierte er ebenso heftig wie seinerzeit Gorba-r tschows Perestroj-

- ka. Dieser hatte doch sechs Jahre lang nur Perestrojka, Perestrojka und Perestrojka wiederholt. Statt den Lebensstandard zu verbessern, hatte er alles richtig ruiniert. Aber auch Jelzin sei nicht besser: „Die wirtschaftlichen Probleme, die auf ihn zukommen, werden nicht zu überwinden sein..

Vehement lehnt der Dichter die weit verbreitete Auffassung, „der russische Charakter stehe dem Marktsystem feindlich gegenüber” ab. „Vor der Revolution funktionierte in Rußland der Markt ausgezeichnet. Ich bin für den Markt” betonte er. Man müsse aber die störenden fremden Einflüsse von außen neutralisieren können, denn das westliche Industriesystem „führt zu unnötiger Ressourcen Verschwendung, Umweltverschmutzung und zur Inflation”.

Mit Empörung reagiert der Dichter auf die Äußerung des amerikanischen Verteidigungsministers William Perry, im Falle des Scheiterns der russischen Reformen müßte der Westen sein kollektives Sicherheitssystem stärken. „Was hat eines mit dem anderen gemeinsam”, fragt er den Interviewer „und warum mutet sich ein US-Verteidigungsminister zu, den Reformkurs Rußlands zu bestimmen und warum soll sein Land einem fremden Druck weichen?” Die Privatisierung der Landwirtschaft sei seiner Meinung nach unabdingbar. Aber das, was dort geschieht, sei ein purer Ausverkauf:

„Nichts wird in Rußland bleiben. Auch der Farmer nicht, dieser wird zu einem einfachen Lohnempfänger.” Schurken werden das Land an sich bringen.

Die Vorstellung, daß „das Fremdkapital das retten könnte, was durch unsere Unordnung zerstört wird, ist sehr gefährlich”. Auffallend ist, daß Solschenizyn seinen im September-Manifest 1990 unterbreiteten Vorschlag, Rußland solle eine Union mit Weißrußland und der Ukraine bilden, auch im Interview des Jahres 1994 wiederholt.

Damals hatte er sich die Mahnung Gorbatschows eingehandelt „der Dichter solle nicht mit einer Schere durch das Land fahren”. Jetzt müsse er sich die Mahnung gefallen lassen, sich vom „imperialen Denken zu befreien”, das ihm bei anderen Bürgern auch nicht gefällt.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung