"Zurück in eine Mini-Sowjetunion"

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Die russische Dissidentin Valerija Novodvorskaja über die misslungene Revolution der neunziger Jahre und das russische "Sklavenvolk".

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Die russische Dissidentin Valerija Novodvorskaja über die misslungene Revolution der neunziger Jahre und das russische "Sklavenvolk".

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Die liberalen Kräfte sind bei den letzten Wahlen in Russland aus dem Parlament geflogen. Valerija Novodvorskaja, die Doyenne der russischen Liberalen, sieht den Grund dafür in der misslungenen Revolution der neunziger Jahre: Das "Sklavenvolk" stimme bewusst für die Unfreiheit, die Reformen seien längst zum Stillstand gekommen.

DIE FURCHE: Während Russlands Präsident Putin von einem Wahlsieg zum nächsten eilt, rutscht Ihr liberales Lager in die Versenkung. Warum?

Valerija Novodvorskaja: Wir sind gerade Zeugen einer Entfesselung: Es klingt paradox, aber diese Art der Demokratie bringt das Land um. Wir erleben jetzt das Finale, wo aller liberale Saft herausgepresst ist und das Volk bewusst für die Unfreiheit votiert.

DIE FURCHE: Weil es von der versprochenen Freiheit enttäuscht wurde?

Novodvorskaja: Wir haben es in Russland mit einem Sklavenvolk zu tun, das noch nicht lange frei ist. Mit Putin kam wieder die Versuchung, die Stiefel der Obrigkeit zu lecken. Man brauchte nur den einen oder anderen in das Gefängnis zu stecken, brauchte nur den Ton zu ändern, um den alten Mechanismus der Selbstzensur, der Geschlossenheit und der Angst einzuschalten. In keinem normalen europäischen Land würde eine Partei, deren einziges Programm die Verehrung des Präsidenten ist, viele Stimmen erhalten. In Russland aber hat das Volk bei der Wahl im Dezember die Rechten, sprich Liberalen, überhaupt nicht unterstützt. Das heißt, es wurden auch keine westlichen Werte angenommen.

Unversöhnlich in der Opposition zu Putin

Valerija Novodvorskaja ist eine der renommiertesten sowjetischen und postsowjetischen Dissidentinnen. Sie wurde 1950 in der weißrussischen Stadt Baranovitschi geboren. 1969 begann sie ihr Philologiestudium am Moskauer Fremdspracheninstitut, wo sie eine Untergrundgruppe gründete, in der auch die Notwendigkeit eines Sturzes des Sowjetregimes mittels bewaffneten Aufstands diskutiert wurde. Am 5. Dezember 1969 warf Novodvorskaja bei einer Festveranstaltung im Kongresspalast des Kreml anlässlich des Tages der Verfassung Flugblätter mit selbstverfassten antikommunistischen Gedichten ins Publikum. Daraufhin wurde sie inhaftiert und zur Zwangsbehandlung in psychiatrischen Spezialkrankenhäusern verurteilt. Die Dissidentin betätigte sich auch an der Verbreitung der verbotenen Samisdat-Literatur; sie wurde mehrmals verhaftet und verurteilt. 1988 gründete sie die Partei "Demokratische Union", der sie bis heute vorsteht. Sie unterstützte Jelzins Präsidentschaft sowie die radikalliberalen Reformen Anfang der neunziger Jahre. Eigenen Worten zufolge steht sie in "unversöhnlicher Opposition zum Putinschen Regime", dem sie sowjetischen Stil attestiert: Sie prangert den Tschetschenienfeldzug an und wirft Putin Kaltblütigkeit bei nationalen Katastrophen wie der Geiselnahme im Moskauer Theater NORDOST vor. Die unverheiratete Historikerin und Autorin einiger Bücher hat gute Kenntnisse in Deutsch, Englisch, Französisch, Latein und Altgriechisch.

Valerija Novodvorskaja ist eine der renommiertesten sowjetischen und postsowjetischen Dissidentinnen. Sie wurde 1950 in der weißrussischen Stadt Baranovitschi geboren. 1969 begann sie ihr Philologiestudium am Moskauer Fremdspracheninstitut, wo sie eine Untergrundgruppe gründete, in der auch die Notwendigkeit eines Sturzes des Sowjetregimes mittels bewaffneten Aufstands diskutiert wurde. Am 5. Dezember 1969 warf Novodvorskaja bei einer Festveranstaltung im Kongresspalast des Kreml anlässlich des Tages der Verfassung Flugblätter mit selbstverfassten antikommunistischen Gedichten ins Publikum. Daraufhin wurde sie inhaftiert und zur Zwangsbehandlung in psychiatrischen Spezialkrankenhäusern verurteilt. Die Dissidentin betätigte sich auch an der Verbreitung der verbotenen Samisdat-Literatur; sie wurde mehrmals verhaftet und verurteilt. 1988 gründete sie die Partei "Demokratische Union", der sie bis heute vorsteht. Sie unterstützte Jelzins Präsidentschaft sowie die radikalliberalen Reformen Anfang der neunziger Jahre. Eigenen Worten zufolge steht sie in "unversöhnlicher Opposition zum Putinschen Regime", dem sie sowjetischen Stil attestiert: Sie prangert den Tschetschenienfeldzug an und wirft Putin Kaltblütigkeit bei nationalen Katastrophen wie der Geiselnahme im Moskauer Theater NORDOST vor. Die unverheiratete Historikerin und Autorin einiger Bücher hat gute Kenntnisse in Deutsch, Englisch, Französisch, Latein und Altgriechisch.

DIE FURCHE: Weil westliche Werte für viele in Russland mit zügellosem Kapitalismus gleichgesetzt werden?

Novodvorskaja: Wir haben weniger einen Banditenkapitalismus, als vielmehr einen staatlichen Kapitalismus. Wir erleben wie schon unter Stalin eine "Enteignung der Kulaken". Bedenken Sie, dass der Premierminister erklärte, nur jenes Business werde existieren, das dem Volk Nutzen bringt; was aber dem Volk gut tut, wird oben entschieden. Wenn in Russland eine unqualifizierte Mehrheit die Entscheidungen trifft, gewinnt leider nicht der Liberalismus. Wir sind nicht die USA, wo die Verfassung dem Bewusstsein des Volkes entspricht, unsere Verfassung ist auf Enge hin gestrickt.

DIE FURCHE: Wie bewerten Sie die Reaktionen des Auslands auf die wachsende Macht Putins?

Novodvorskaja: Bei der Episode mit der Verhaftung von Michail Chodorkowski haben Sie gesehen, dass die Machthaber straflos ausgingen. Putin wurde weder aus den G8 noch aus dem Europarat ausgeschlossen - wie man es hätte machen müssen. Diese Reaktion des Westens auf Russlands Willkür inspiriert eine solche Macht sehr. Es entstehen damit leckere Fakten für die Tschekistenmacht, und ich weiß nicht, ob sie sich bei solch günstigen Bedingungen vor weiteren Schritten wird zurückhalten lassen.

DIE FURCHE: Warum konnte die nach dem Ende der Sowjetunion einsetzende Aufbruchsstimmung nicht besser genutzt werden?

Novodvorskaja: Nach der Befreiung aus der Unwissenheit, Anfang der neunziger Jahre, meinten die Leute, Kapitalismus bestehe aus 80 Sorten Wurst und 50 Sorten Käse in der Vitrine. Man glaubte, mit der Beseitigung der Kommunisten seien alle Übel behoben. Niemandem kam in den Sinn, wie sehr das Land heruntergekommen war und welch große Opfer es braucht, es aus dem Sumpf zu ziehen. Niemand dachte an die eigene Verantwortung, an eigene Schuld und daran, dass Kapitalismus viel und schwere Arbeit unter den Bedingungen einer harten Konkurrenz bedeutet. Nach den einschneidenden Reformen des Ministerpräsidenten Jegor Gajdar trat zutage, was die neue Freiheit bedeutet, und ein erbitterter Protest setzte ein ...

DIE FURCHE:... der zur Abberufung Gajdars führte ...

Novodvorskaja: ... weil das Land der Faulenzer, in dem 70 Jahre lang das Arbeiten verlernt wurde, im allgemeinen links und kommunistisch orientiert ist. Deswegen musste Jelzin den Reformer Gajdar nach acht Monaten absetzen und konnte nur mehr heimlich seinen Rat einholen. Die Reformen kamen zum Stillstand, und die Überreste des imperialistischen Bewusstseins forderten die verbrecherische Dummheit des Tschetschenienkrieges. Das Volk wandte sich denen zu, die ihnen gratis ein unbekümmertes Leben versprachen. Das Bildungsmoment spielt hier seine Rolle, denn aufgeklärte Menschen hätten nie im Leben einem Aufwiegler wie Schirinowskij oder den Kommunisten geglaubt.

DIE FURCHE: Jelzin trifft keine Schuld am Stocken der Reformen?

Novodvorskaja: Man kann Reformen schnell machen oder gar nie. Mit Gajdars Absetzung wurden sie überhaupt eingestellt. Und das nicht auf Grund des Volkswillens, sondern weil Jelzin nicht die physische und militärische Kraft hatte, um sie weiter umzusetzen.

DIE FURCHE: Warum bewerten Sie Jelzin im Gegensatz zu Putin so nachsichtig bzw. positiv?

Novodvorskaja: Jelzin war zum Teil eine Revolution von oben - eine solche hat aber nur eine Chance, wenn sie wie bei Atatürk über gute Streitkräfte verfügt. Bei uns ist die Armee durch und durch sozialistisch und rot. Und auch keine andere staatliche Gewaltstruktur hat die Reformen unterstützt.

DIE FURCHE: Vor den Wahlen sagten Sie, es gebe nur zwei Wege: Richtung Westen oder zurück in die UdSSR. Einen eigenständigen russischen Weg gibt es nicht?

Novodvorskaja: Natürlich kann Putin die früheren Sowjet-Republiken nicht gewaltsam zurückholen, aber alles, was er konnte, hat er aufgesammelt: Weißrussland, Tschetschenien. Psychologisch gehen wir in die Sowjetunion zurück - eine verkleinerte, eine Mini-UdSSR gewiss, aber ebenso boshaft. Wir sind auf dem Weg in einen imperialistisch-sozialistischen Feudalismus. Russland zieht keine Lehren.

DIE FURCHE: Was erwarten Sie nach dem Wahlsieg Putins bei den anstehenden Präsidentenwahlen?

Novodvorskaja: Es wird noch mehr zu einer "Lukaschenkoisierung" kommen. Putin ist freilich ein weit größerer Heuchler als der weißrussische Dikator. Was einige spezielle Methoden Lukaschenkos betrifft, wie das Verschwinden von Leuten, so haben wir das in Russland ja auch schon; der Dumaabgeordnete Sergej Juschenkov (Vorsitzender der Partei "Liberales Russland"; Anm.) wurde im letzten Jahr am helllichten Tag umgebracht. Aber Putin wird keine ausländischen Botschafter des Landes verweisen, er wird versuchen, dem Westen zu gefallen. Doch das, was im Land vor sich geht, wird damit nicht übereinstimmen - wie es auch jetzt schon nicht übereinstimmt.

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