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Zwielicht in Kurdistan

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Als Karl May die Kurden vor rund sechzig Jahren sozusagen „literaturfähig“ machte, lebten sie noch — vom Verlauf der Weltgeschichte beinahe unberührt — in ihren abgelegenen und unwegsamen Jagd- und Weidegründen in den Gebirgstälern zwischen Schwarzem Meer, Kaukasus, Kaspischer See, Täbris und den ölfeldern von Kirkuk. Als nach dem Ende des ersten Weltkrieges das Osmanische Imperium zerfiel und im Nahen und Mittleren Osten moderne Nationalstaaten entstanden, gingen die Kurden leer aus. Das ist bis heute so geblieben, und — ob-schon ihr Verlangen nach Gleichberechtigung und Selbstbestimmung in dem Maße wuchs, in dem sie den Anschluß an das Lebensniveau ihrer Nachbarn fanden — das Land Kurdistan existiert bis jetzt nur in der Phantasie unseres Romanautors. In den Atlanten sucht man es vergebens.

Wieviel Explosivstoff dieser Krisenherd im Vorderen Orient enthält, zeigt allein schon der Hinweis, daß das Territorium, auf dem die Kurden seit Jahrhunderten leben, sdch auf die Grenzgebiete von fünf Ländern — des Iraks, Persiens, Syriens, der Türkei und der Sowjetunion — erstreckt. Die Kurdenfrage geht auf den Friedensvertrag von Sevres (1920) zurück, der die Auflösung des Osmanenreiches besiegelte und in dem auch den Kurden das Selbstbestimmungsrecht zuerkannt worden war. Dieser Teil des Vertrages wurde indes niemals erfüllt. „Türkenvater“ Mustapha Kemal (Atatürk) erzwang wenige Jahre darauf eine Revision des Vertrages, der auch die kurdische Selbständigkeit zum Opfer fiel. Seitdem kämpfen die Kurden zäh und verbissen um das ihnen vorenthaltene Recht auf nationales Eigendasein. An der Spitze seiner rund zwanzig Millionen Landsleute (andere Quellen zählen allerdings nur etwa acht Millionen) steht ein Mann, der nach Hf&ÄHPd *bentouUchr- Lauf-, bahn durchaus mit, den Helden Karl Mays verglichen werden kann: Mustapha Mullah Barazani. Der Kurdenführer lebte zwölf Jahre lang im sowjetischen Exil, und er soll es in der Roten Armee bds zum Rang eines Generals gebracht haben. Daß der permanente Aufstand der Kurden gegen die Regierungen der Länder, auf die sich ihr Lebensraum verteilt, nach dem zweiten Weltkrieg über die bis dahin leicht zu kontrollierenden Stammesfehden hinauswuchs und in eine Phase gelangte, die — vor allem im Irak — die Staatsautorität gefährdet, ist das Verdienst Barazanis. Der General lernte in der Sowjetunion die harte Praxis des Partisanenkrieges kennen; er ist mit den taktischen Finessen der Roten Armee vertraut. Dennoch wäre es falsch, zu argwöhnen, daß er aus Moskau auch als überzeugter Kommunist zurückgekommen sei. Sein Programm entbehrt nicht einer gewissen Sozialrevolutionären Komponente, aber er besitzt auch das uneingeschränkte Wohlwollen seiner konservativen Stammesgenossen und insbesondere das Vertrauen der jüngeren kurdischen Intelligenz. Alles in allem also ein nicht zu unterschätzender Gegner.

In den letzten Monaten vor dem Sturz Kassems sah es so aus, als ob die Absicht Mustapha Mullah Barazanis auf die Eroberung des ganzen Iraks gerichtet sei. Doch es war klar, daß er selbst dieses Ziel nur als eine Etappe, freilich als die wichtigste, auf dem Weg zu einem freien Kurdistan betrachtete. Für die Kurden schien der Irak wohl der Sperling in der Hand und Kurdistan die Taube auf dem Dach zu sein. Obwohl die Aussicht, den Irak zu beherrschen, für Barazani gar nicht so schlecht stand, zumal der Diktator in Bagdad auch von seinen arabischen Untertanen längst nicht mehr geliebt, sondern nur noch gefürchtet wurde, war es höchst fraglich, ob die Kurden jemals einen eigenen Staat besitzen würden. Dieser eigene Staat ist auch heute noch ihr Ziel. Aber sie bedürfen dazu sowohl der aktiven Mithilfe der Stammesgenossen in den angrenzenden Ländern, als auch der Unterstützung der im Vorderen Orient engagierten Großmächte. Und mit beidem ist es nicht zum besten bestellt.

Die weltpolitischen Aspekte der Kurdenfrage sehen so aus: Die türkische Regierung berief zu Lebzeiten Kassems als Protest gegen die Grenzverletzungen zwar ihren Botschafter im Irak vorübergehend ab, die Empörung richtete sich aber weit weniger gegen die Iraker als gegen die Kurden. Hier liegt denn auch die größte Tragik dieses so erbittert um seine Selbstbestimmung ringenden Volkes. Es hat keine Bundesgenossen. Die kurdischen Minderheiten werden von allen beteiligten Ländern als unerwünscht angesehen. Trotzdem ist ihnen ein eigener Staat durch die Macht- und Landgier ihrer arabischen, türkischen und persischen Nachbarn versagt geblieben. Man will das kurdische Land, doch nicht die Kurden. Während es nach kurdischen Angaben etwa zwanzig Millionen Kurden gibt, wird von den erwähnten Ländern nur die Existenz von rund fünf Millionen zugegeben. Davon leben eineinhalb Millionen im Irak. In der Türkei dürfte es vier bis fünf Millionen geben, obwohl das Statistische Jahrbuch nur 1,7 Millionen registriert. Auch in der Sowjetrepublik Aserbeidschan leben mindestens 55.000 Kurden.

Unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg sah es eine Zeitlang so aus, als werde die Sowjetunion das kurdische Verlangen unterstützen. Stalin mag in den Kurden einen wertvollen Stoßtrupp gegen den westlichen Einfluß im Nahen und Mittleren Osten erblickt haben. Aber nach der Revolution Kassems im Irak verloren die Sowjets das Interesse an ihnen; die Araber waren Moskau wichtiger. Im übrigen war die sowjetische Unterstützung ohnehin niemals sehr ernst gemeint. Als Mustapha Mullah Barazani 1946 auf der Flucht sowjetisches Territorium betreten wollte, wurde er fünf Tage lang an der Grenze festgehalten, ehe er auf Weisung Stalins einreisen durfte. In Moskau mußte er sich zuerst einmal drei Jahre lang als Kappenmacher über Wasser halten, bis der Kreml seine Nützlichkeit für die sowjetischen Nahostziele entdeckte. Barazani bestreitet, entgegen westlichen Behauptungen, entschieden, jemals Kommunist gewesen zu sein. Es mag unsicher sein, ob das zutrifft. Jedenfalls wurde er längere Zeit nicht mehr von der Sowjetunion unterstützt. Moskau weiß zu genau, daß es sich auf diese Weise leicht das Wohlwollen der Araber verscherzen kann, die dem kurdischen Wunsch nach nationaler Selbstbestimmung samt und sonders ablehnend gegenüberstehen. Außerdem würde bei der Errichtung eines kurdischen Staates

auch der künftige Status der kurdischen Minderheit in Aserbeidschan akut. Die Waffen sowjetischer Herkunft, die man von Zeit zu Zeit im Besitz der Rebellen fand, stammen aus den von ihnen geräuberten Arsenalen der irakischen Armee.

Noch einen anderen ungebetenen Bundesgenossen, der sich aus rein opportunistischen Beweggründen für ihre Sache einsetzte, erhielten die Kurden vorigen Sommer: „Saud el-Arab“, Abdel Nassers lautstarker Propagandasender, machte sich' zum Sprecher ihres Freiheiitswillens. Nachdem die Bagdader Regierung zwar das Manifest der zweiten „Vereinigten Arabischen Republik“ unterschrieben und zu Abdel Nassers Flagge vorübergehend einen dritten Stern beigesteuert hatte, aber bald darauf wissen ließ, daß das nur eine Finte war, mit deren Hilfe sie Zeit gewinnen und sich festigen wollte, gedachten die enttäuschten Kairoer Panarabisten, ein Hühnchen mit ihr zu rupfen. Eine Zeitlang schienen sie zu glauben, daß eine zu nichts verpflichtende und nichts kostende propagandistische Unterstützung der Kurden dem Bagdader Widerpart am meisten schade. Wie es den kurdischen Autonomiebestrebungen erginge, falls Abdel Nasser im Irak tatsächlich einmal das Szepter schwingt, läßt sich leicht ausrechnen. In Kairo wurden panarabische Sache und ägyptischer Hegemonieanspruch immer über Einzelinteressen gestellt. Daran ist ja auch die erste „Vereinigte Arabische Republik“ so schmählich zugrunde gegangen.Auch in Persien, Syrien und in der Türkei denkt man nicht daran, die kurdischen Wünsche zu fördern. Wiederholt wurden starke persische Armeeeinheiten in das Grenzgebiet verlegt, und die Türkei entsandte 1961 in aller Eile vierhunderttausend Mann an die Südgrenze, die niemals gänzlich zurückgezogen wurden.

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