Ablösungsprozeß, der Geschichte schrieb

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Nach den Wurzeln des "Blauen Reiter" gräbt eine Ausstellung im Münchener Lenbachhaus.

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Nach den Wurzeln des "Blauen Reiter" gräbt eine Ausstellung im Münchener Lenbachhaus.

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Fabelhafte Ruhe! Kommt denn einmal auch Bewegung?" Voll Ungeduld erinnert sich Wassily Kandinsky in seinem einfühlsamen Nachruf auf Franz Marc (1935) an die Kunststadt München zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Aber er sieht auch hoffnungsvolle Anzeichen, Vorboten eines "Heroischen Frühlings": Unter anderem die Aktivitäten der 1901 von ihm mitbegründeten Kunstschule "Phalanx", die auch Frauen offen stand, die Schule von Anton Azbe, die Münchner Kunsthandlung Brakl.

Die Bewegung kam - zunächst mit Corinth, Slevogt und Liebermann; und sie kam vor allem durch jenen Künstler-Freundeskreis um Kandinsky selbst, der sich zunächst durch gemeinsame Malaufenthalte seit 1908 im bayerischen Voralpenland, in Murnau zusammenfand und der schließlich mit der legendär gewordenen Redaktion des "Blauen Reiter", dem Almanach und seinen Ausstellungen die Entwicklung der Kunst mitbestimmen sollte. Daß der "Blaue Reiter" nie eine Künstlervereinigung war, jedoch aus einer solchen hervorgegangen ist, ist weitgehend vergessen. Die Städtische Galerie im Lenbachhaus hat zum 90jährigen Gründungsjubiläum der "Neuen Künstlervereinigung München" (NKVN), besagter Keimzelle, dem künstlerischen Ablösungsprozeß von ihr eine umfangreiche Ausstellung gewidmet: "Der Blaue Reiter und das Neue Bild".

Spontan hat sich Kandinsky auf Anregung seiner russischen Freunde Alexej Jawlensky und Marianne von Werefkin, die wie er 1896 nach München gekommen waren, zur Gründung der Neuen Künstlervereinigung München (NKVM) bereit erklärt. Seine Schülerin und Lebensgefährtin Gabriele Münter sowie die Maler Adolf Erbslöh und Alexander Kanoldt gehören zu den ersten Mitgliedern. Kandinsky, Jurist und Nationalökonom und seit der "Phalanx" mit Ausstellungserfahrung, bringt als Vorsitzender die Ziele der NKVM im Gründungszirkular 1909 auf den Punkt: "... das Suchen nach künstlerischen Formen ..., um nur das Notwendige stark zum Ausdruck zu bringen - , kurz - das Streben nach künstlerischer Synthese ..."

Der internationale Charakter und die angestrebte Verbindung unterschiedlicher Einzelerscheinungen spiegelt sich wider in weiteren Mitgliedern und Gästen wie Alfred Kubin, Waldimir von Bechtejeff und Erma Bossi, Pierre Girieud und Henri Le Fauconnier, den Bildhauern Bernhard Hoetger und Mossey Kogan, dem Tänzer Alexander Sacharow, ferner den "Nicht-Künstlern" Otto Fischer und Oskar Wittenstein. Zweck der Vereinigung waren Kunstausstellungen in Deutschland und im Ausland.

Verfolgt man die Aktivitäten einzelner Mitglieder, so fallen ganz besonders die Bestrebungen auf, sowohl in Paris wie in Rußland die Kontakte zu intensivieren, ausländische Künstler an eigenen Ausstellungen, die NKVM im Ausland zu beteiligen. Kandinsky und seine russischen Freunde knüpfen Beziehungen nach Moskau, Gabriele Münter besucht im Rheinland aufgeschlossene Museumsdirektoren, Pierre Girieud und Adolf Erbslöh aquirieren in Paris. Kandinsky gelingt es, die "damals vielleicht schönsten Ausstellungsräume in ganz München" der Galerie Heinrich Thannhauser zu gewinnen. Drei Ausstellungen gingen von hier aus auf Tournee durch Deutschland - 1909, 1910 und 1911; in der nur vierjährigen Dauer des Vereins ein beachtlicher Erfolg.

Die Werkschau im Kunstbau des Lenbachhauses versucht die historischen Präsentationen weitgehend zu rekonstruieren. Am Anfang stehen noch neoimpressionistische Anklänge und der Nachhall französischer Eindrücke neben schon großflächigen Farbkompositionen, reduzierten Bildaussagen und einer sich verdichtenden Formensprache aus Farbe und Lineament. Die zweite Ausstellung ist erweitert um Gäste der französischen und russischen Avantgarde, unter anderen Picasso und Braque, die Brüder David und Wladimir Burljuk. Beide Ausstellungen sind Zielscheibe heftiger Kritiken. Aber auch innerhalb des Vereins zeichnen sich Meinungsverschiedenheiten und Unmut ab.

Nach dem Eintritt Franz Marcs 1911 und seiner engen Freundschaft zu Kandinsky vertiefen sich die Unterschiede zusehends, die künstlerischen Bestrebungen unter den Mitgliedern divergieren: kristallin-starre Anlehnungen an den Kubismus beziehungsweise beruhigt-symbolistische Tendenzen einerseits und die Suche, "die innere Natur, d. h. Seelenerlebnisse in künstlerische Form zu fassen" (Kandinsky) andererseits.

Der Bruch ist programmiert. Kandinsky legt 1911 den Vorsitz nieder, die Freunde beginnen mit der Arbeit an ihrem "Almanach Der Blaue Reiter". An der Frage der Abstraktion scheiden sich letztlich die Geister: als Kandinskys "Komposition V" von der Jury für die dritte Ausstellung abgelehnt wird, treten er, Franz Marc und Gabriele Münter aus und zeigen parallel eigene sowie Werke unter anderen. von Albert Bloch, August Macke, Arnold Schönberg, den Brüdern Burljuk, Henri Rousseau und Robert Delaunay.

Die Künstler des "Blauen Reiter" haben sich aus der NKVM befreit und zu einem "Neuen Bild" gefunden, das aber nicht unbedingt jenem entsprach, das der Kunsthistoriker Otto Fischer in seinem gleichlautenden Buch (1912) von der Kunst der Neuen Künstlervereinigung München gezeichnet hat.

Bis 3. Oktober. Lenbachhaus-Kunstbau, Luisenstr. 33, München. Tel. 0043-89-23332000

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