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AM RANDE DER WILDNIS

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Der Zug nach Washington erinnerte an eine Reihe von Konservendosen, seine Wagen sahen wie mit scharfem Scheuersand und vielem Hausfrauenschweiß blankgeputztes Weißblech aus, und wirklich, man wurde hier eingemacht, eingeweckt, in eine Art Vakuum gesteckt, die Türen schlössen sich durch Druckluft, kein Fenster ließ sich öffnen, doch hielt ein künstlich geschaffenes, wohlüberlegtes Klima den Passagier über weite Strecken frisch.

Ein schwarzer Diener in weißer Servierjacke nahm mir das Gepäck ab. Ich schritt über Teppiche. Im Parlor Car harrten raffiniert konstruierte Sessel, wahre schmerzberuhigende Zahnarztstühle, der Reisenden. Die Sessel ließen sich pneumatisch drehen, heben, senken und mannigfach verstellen, der Körper konnte ruhen, wie er wollte, die Füße konnten nach oben gestreckt, der Kopf nach unten gehängt werden, der Sessel war eine feste Burg, er war auch ein Operationstisch, der Leib wurde wie zu einem schweren Eingriff zurechtgerückt, und wirklich, man wurde operiert, wenn man zum erstenmal durch Amerika fuhr — das Land taugte einen aus.

Was bot sich den Kolonisatoren? Grüne Weiden, grüne Hügel, grüne, holzreiche, wildvolle Wälder, Ströme, breit einladend zu Schiffahrt und Entdeckung, ein freundliches, ein Nahrung, ein Heimat verheißendes Bild, und doch war das Land von großer, erschreckender Unheimlichkeit, ein Erdteil voller Tücke. Auch Europa hat seine Weiden, auch Europa hat Ströme und Wälder. Aber diese hier waren nie bezwungen worden, sie wuchsen fort,, sie verschlossen sich, sie waren maßlos gefräßig, sie hatten sich nie ganz in des Bürgers. Hand gegeben, sie drohten immer noch, den Menschen zu verschlingen. Selbst, die Autobahnen, die festen, schnellen Straßen, glichen bloßen Waldgängerpfaden, und paßten die Anwohner nicht auf, in einem Monat hätte das Grün, hätte die Wildnis die Wege zurückerobert.

Außerhalb der großen Städte zogen sich die menschlichen Siedlungen längs dieser Straßen hin und waren doch nur verspren-kelter Aussatz im Gemälde der großen Natur. Ebenerdige, von Veranden umzogene Häuser, auf geschorene Rasenstücke wie auf grüne Teppiche gestellt, uneingezäunt, dicht neben der weiten Weide, nahe beim dunklen, undurchdringlichen Wald, so liebt der Amerikaner sein dünnwandiges, immer provisorisches Heim unter der Fernsehantenne, er scheint zu glauben, sich mit der Natur angefreundet zu haben, im Schaukelstuhl wiegt er sich auf der Terrasse im Sonnenschein, aber seine Wohnung ist doch ein düsteres Tableau von Einsamkeit und nahendem Tod, von jenem Verlieren, das Thomas Wolfe so sehr empfunden hat, und die freundliche Natur, mit der man sich eins wähnte, hebt bald grausam ihre furchtbare Pranke, kommt mit entsetzlichen Unwettern, mit glühender Sonne, brennendem Gras und Baum, mit Hurrikanen im Sommer und Blizzards im Winter und immer gigantisch.

Aus plötzlich sie überkommender Furcht schien es, vereinten eich die Siedlungen zu einer Main Street, zu einem kleinen Broadway mit selbst am Tage unter greller Sonne noch leuchtenden Lichtreklamen, mit Garagen, mit Filmpalästen, die sich nur durch eine ihren Filmen entlehnte Fassade von den Garagen unterschieden, der Supermarket breitete seine Konserven aus, die Hausfrauen schoben die kleinen Einkaufswagen, es war, als suche man Schutz beieinander in der trügerischen Sicherheit unseres technischen Jahrhunderts.

Das Land, das ich sah, dieser Strich des Landes, vor dem noch immer nicht humanisierten Wald, dieser der Wildnis abgetrotzte Garten, schien weniger von Menschen als von Automobilen bewohnt zu sein. Die Kraftwagen beherrschten die Landschaft, sie standen in Rudeln vor jedem Haus, kampierten in Waldeslichtungen, ergingen sich an den Flüssen, hatten ihre Drive-in-Re-staurants, ihre Drive-in-Kinos auf freiem Feld, ihre eigenen Hotels und ihre riesigen, überaus melancholischen Friedhöfe.

Zuweilen standen zwei Wagen, wie in einer Unterhaltung begriffen, in einsamster Natur; nicht die Menschen, die Automobile schienen die Herren des Erdteils zu sein und sich zu einem Rendezvous verabredet zu haben.

An der Strecke New York—Washington beginnt schon der Süden und die Rassentrennung. Schwarze Siedlungen, weiße Siedlungen, sie bildeten eine helle und dunkle Kette, sie lagen umeinander wie die Igelstellungen, wie die in Bewegung geratenen Fronten eines schrecklichen Krieges. Die Häuser, die Wiesen, die Automobile der Neger waren in der Regel schäbiger als die Häuser, die Wiesen, die Automobile der Weißen. Sie waren aber nicht sehr viel schäbiger. Vom Zuge aus merkte man kaum einen Unterschied. Die Main Street blieb sich immer gleich, die Geschäfte ähnelten einander, die Kirchen konnte man vertauschen, doch hatten sie eine weiße oder eine schwarze Kundschaft. Der Himmel umschloß sie alle in einer Melancholie.

Ein Gewitter zog herauf, braute sich über Wäldern und Flüssen zusammen, drückte schwer zur Erde, tief hing der schwarze Himmel, es wurde Nacht um Mittag, die Bäume waren windgeschüttelt, ein grünes wogendes Meer. In einem Nu war der Horizont eng geworden und ein Weltuntergang, der Regen fiel wie eine Sintflut, der Blitz war eine fortdauernde Flamme. In den nun ganz verloren scheinenden, wie von der Flut weggespülten Häusern brannten mit furchtsamem Schimmer die Lampen, die Automobile hatten die Scheinwerfer eingeschaltet, sie legten den Optimismus der Zivilisation vor ihren Weg, ein geducktes, ein gefährdetes, ein kühnes Leben versuchte, sich zu behaupten. Der Zug fuhr wie ein mit Beobachtungsfenstern ausgerüstetes Tauchboot durch eine unheimliche Unterwasserlandschaft. Die Welt schien versunken, schien auf den Grund des Meeres gerissen zu sein, doch im Parlor Car servierte der schwarze Diener auf Eis geschütteten Whisky. Politiker, Abgeordnete, Lobbyisten nahmen das angebotene Glas in die Hand, fühlten die beruhigende Kühle amerikanischen Komforts. Sie studierten wieder ihre Akten. Sie unterhielten sich. Klatsch wucherte wie Unkraut. Andere lasen die Anzeigen der Sonntagszeitungen, erforschten den reichen, vorwiegend die Frauen lockenden Markt, bedachten die Konkurrenz des Überflusses, suchten die Möglichkeit für neuen Gewinn, und ein Kadett in der zierlichen Zinnsoldatenuniform der Militärakademie von West Point beobachtete, wie ein von einer Schlange hypnotisiertes, nettes Kaninchen, seine blondmähnige Freundin, die ihre Hübschheit bei Himmelsflammen wie einen strengen Götzen pflegte.

Was begriffen wir von der Erde, übeT die unsere Fahrt ging, von der Atmosphäre aus Finsternis, Nässe, Elektrizität und bangendem Leben, durch die unser Zug brauste? Wir tranken unseren Whisky, wir dachten an unsere Geschäfte, wir blickten die eitle Schöne an, beneideten und bemitleideten den' ihr verfallenen Kadetten, wir reisten in einem künstlichen Klima, in dem spannungslosen Feld eines Faradayischen Käfigs.

Erst als der Zug in Washington hielt, erst als die luxuriöse Konservendose, in der wir gesessen, erst als der Waggon geöffnet wurde, traf uns die Luft wie ein Schlag mit einem schweren dampfgetränkten Handtuch.

Aus Wolfgaitg Kosppens „Amerikafahrt', FiscUer-Buckcrct. Copyright by

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