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Am Tor einer neuen Klangwelt

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Seit Jahrtausenden vertraut der Mensch dem Gesang, den Flöten, den Geigen und den sinnreich gebauten Tasteninstrumenten die Regungen und Kräfte seiner Seele an, die sein Innerstes bewegen. Die Vibration des Stimmbandes, der Atem des Bläsers, die organischen Körperfunktionen des Instrumentalisten rufen Schwingungen der Luft hervor: Musik, Hörbares ohne Worte oder rationale Gedanken und doch eine verständliche Sprache vom Menschen zum Menschen. Heute ereignet sich eine Veränderung von Grund auf: die Invasion der Technik ins Reich der Töne. Mit Apparaten, die durch mechanische Handgriffe in Funktion gesetzt werden, erzeugt sich Klang vielfältigster Art, der die bisherigen LImfriedungen der musikalisch tönenden Welt sprengt und neue Dimensionen des Hör- und Fühlbaren erreicht. An Stelle des leierspielenden Orpheus erscheint das Bild des Musikingenieurs, der elektrische Ströme einschaltet und regelt, und dessen Leitstern die Wissenschaft von der Natur ist.

Immer hat die Musik ein Doppelgesicht besessen. In ihr als einem Medium der unendlichen Skala der Gefühle drückt der Mensch sein Einssein mit den Schwebungen der Natur aus, sie realisiert das Irrationale in unmittelbarster Form. Aber zugleich beruht sie auf rationaler innerer Struktur. Das klingende Material ist wissenschaftlich verankert. Der Skala der Töne und ihren Kombinationen liegen physikalisch-mathematische Gesetzlichkeiten zugrunde, Zahlenverhältnisse bestimmen ihren Verlauf und, im akustischen Phänomen, ihre Hörbarkeit. Die Instrumente sind nach Naturgesetzen konstruierte Gebilde. Und auch der Verlauf der Musik in melodischer Linie, vielstimmigem Zusammenklang, Rhythmus und formalem Aufbau wird, bei allem Attachement an vegetative Funktionen der Menschennatur, durch rational entwickelte Theorien bestimmt. Nie darf man vergessen, daß die am meisten emotionelle Kunstgattung, die Musik, von Grund auf wissenschaftlich durchtränkt ist.

Zwei charakteristische Symptome treten heute auf. Zunächst der Drang, das traditionell gegebene Tonmaterial auf die verschiedensten Arten, zu erweitern (Einführung von Viertel-. tönen, musikalische Legitimierung von Geräuschen). Lim die Vierteltöne zerbrach sich Busoni den Kopf, Alois Häba hat ihre Anwendung verwirklicht. Der Einbau der Geräusche durch den Jazz ist allbekannt. Aber auch in der Kunstmusik sind neue Geräuschkombinationen entstanden, die in vielfarbigen, reinen Schlagzeugkompositionen in Erscheinung treten. Von einer absoluter?, technisch erzeugten Geräuschmusik träumte vor bald fünfzig Jahren der futuristische Maler und Musiker Luigi Russolo. Das zweite Symptom zeigt sich im Vordrängen des Mechanischen. Es hat sich durch die auf vollendete Reproduktion drängenden mechanischen Verfahren des Grammophons, des Radios, des Tonbandes und ähnlicher Mittel Eintritt verschafft' ihre technisch virtuosen Manipulationen des Schneidens (wie beim Film), des Ueberspielens und Ueberblendens greifen, durch automatische ' Kräfte der Technik selbst getrieben, tief in die Substanz der Musik ein.

Diesen beiden Symptomen entsprechen zwei parallel laufende Vorgänge im musikalischen Feld selbst, von denen aus sich völlig neue Perspektiven öffnen. Die Physiker haben festgestellt, daß mit Hilfe von elektrischen Schwe-bungssummern und anderer elektronischer Hilfsmittel Töne erzeugt werden können: die traditionellen Töne und Tonfarben ebenso wie eine unendliche Zahl und Gattung von bisher un-gehörten Schallphänomenen, die ihrerseits noch spektral zerlegbar sind. Durch sie treten zu den neuen Klangphänomenen noch Mischungen und Ueberschichtungen höchst merkwürdiger Art. So steht heute ein tönendes Material zur Verfügung, das dem bestehenden Drang des Musikers nach Erweiterung der Mittel in geradezu aufreizender Weise entgegenkommt.

Zur gleichen Zeit, zu der die Naturwissenschaftler die neuen Klangmöglichkeiten erschlossen haben, begann der Pariser Mathematiker und Radiomann Pierre Schaeffer mit seinen Experimenten klanglicher Montage, für die das Magnetophonband die technischen Möglichkeiten bietet. Das Material der montierten Klangbilder liefert die Gesamtheit des Hörbaren: gegebene Musik, die menschliche Stimme, Geräusche jeder Art, die einzeln auf Band aufgenommen und dann nach bestimmten Konzeptionen montiert werden; musikalische Klebebilder großen Stils, deren Einzelteile außerdem den technischen Möglichkeiten der Verzerrung, dem schnelleren oder langsameren Abspielen (Zeitraffer und Zeitlupe im Film), dem Rückwärtslauf, der Zerlegung usw. ausgesetzt werden können. So entsteht die „Musique concrete“ Pierre Schaeffers, ein Klangbau, dessen geschlossenen Stücken eine imaginative Konzeption zugrunde liegt.

Erregende Fragen tauchen im Gefolge all dieser Dinge auf. Als vordringlichste: sind die neuen elektronischen und montierten Klanggebilde künstlerisch gestaltbares Material? Auf jeden Fall geht von ihnen unmittelbare Faszination auf ernste, der Sensationssucht unverdächtige Komponisten unserer Zeit aus, von denen Messiaen, Boulez, Stockhausen, Pousseur sich der mühevollen Auseinandersetzung mit unerprobten und bisher unnotierbaren Methoden musikalischen Ausdrucks unterzogen haben. Anderseits ist es klar, daß die pfeilartige Intensität und auch manche der erzeugten Farben der neuen Klanggebilde die Grenzen bisheriger physiologischer Hörbarkeit überschreiten. Wo diese Grenzen liegen, und ob sie sich entwicklungsgeschichtlich verschieben, bleibt eine Frage für Biologen und Physiologen. Daß gegenüber dem frischen Optimismus der Techniker, denen keine künstlerische Verantwortung obliegt, neue Ordnungen aufgestellt werden müssen, die mit Abstrichen und Einschränkungen verbunden sind, steht außer Zweifel. Hier liegen die Aufgaben für die schöpferischen musikalischen Gestalter, in denen ein innerer, gleichsam stummer Klangtrieb zur Formung hörbarer Klanggebilde, zur Musik im unbegrenzten Sinn drängt.

Die Hauptfrage aber lautet: Wo bleibt der Mensch? Wir sehen heute in allen Künsten das Aufkommen neuer Beziehungen zum menschlichen Maß, dem die Annahme zugrunde liegt, die physischen und psychischen Umrisse des Menschen stellten eine gegebene Größe dar. Die elektronischen Klanggebilde und alles, was mit ihnen zusammenhängt und parallel geht, liegen außerhalb dieser Relationen. Von Martenots und Trautwein-Salas Instrumenten abgesehen, die überdies als Vorläufer der ganzen Vorgänge anzusehen sind, gibt es bei ihnen keinen menschlichen Spieler, nur noch technische Aufzeichnung, Montage und wiederum technisches Abspielen per Band oder Platte.

Wenn der Mensch wieder in diesen neuen Klangwelten erscheint, der Mensch als beseeltes Individuum und mit den Schwächen des organischen Lebens behaftet, wenn sich sein Atem mit den elektronischen Phänomenen verbindet, dann mögen sich die Tore zu neuen Bereichen der Musik öffnen, und es wird Wirklichkeit werden, was heute noch Traum ist.

Wer sich mit dem Thema ..Elektronische Musik“ eingehend beschäftigen will, sei auf das soeben von der Universal-Edition veröffentlichte erste Heft der „Reih e“ mit dem Titel „I n-formation über serielle Musik“ hingewiesen. Darin finden sich interessante Beiträge von Technikern, Komponisten und Theoretikern der elektronischen Musik, wie Eimert, Govaerts, Stuckenschmidt, Klebe, Meyer-Epler, Koenig, Krenek, Gredinger, Pousseur, Boulez und Stockhausen. Bald wird man auch die Möglichkeit haben, die ersten, im elektronischen Studio des Senders Köln entstandenen Stücke auf einer Schallplatte zu hören, deren Herstellung und Veröffentlichung die Universal-Edition plant.

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