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Am Webstuhl der Zeit

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VOR ZWEIHUNDERT JAHREN erhielt Florian Zeiß den Auftrag, eine „Zeichnungsakademie“ zu eröffnen. Am 11. Jänner begann sie unter der Bezeichnung „K. K. Commerzial-Zeichnungsakademie“ mit ihrer Arbeit. Damals, im Jahre 175 8, bestand längst schon, seit mehr als einem Menschenalter, die durch Karl VI. gegründete erste Ingenieurschule des Kontinents, hatte die „Universaleinladung“ an fremde Kaufleute „ohne Unterschied der Religion“ der Volkswirtschaft bedeutende Anregungen gegeben, bestand seit der Jahrhundertwende die erste Wiener Fabrik, bezeichnenderweise eine Seidenfabrik am Neubau, der später die Seiden- und Samtwirkerei am Schottenfeld, die Baumwollindustrie in Schwechat und in Pottendorf, die Seidenindustrie in Südtirol und die Grundlegung zur nordböhmischen Textilindustrie folgten. 1736 hatte Wien 12.000 Gewerbetreibende, aber keine Hilfskräfte. Man begann mit Lehrlingskursen. Auch die aufstrebende Textilindustrie konnte ohne fachliche Schulung auf die Dauer nicht auskommen. Die Planungen Oesterreichs waren damals überaus umfassend. Das kann man schon an dem Vorschlag zu einer mitteleuropäischen Münzunion ablesen — heute, nach zweihundert Jahren, beginnt man sich erst wieder auf große Wirtschaftsräume zu besinnen! Um 1750 freilich beauftragte Friedrich II. seinen“ Gesandten in Regensburg, „die Reformbestrebungen so weitläufig und vage als möglich zu traktieren, sich nicht mit solchen Lumpereien aufzuhalten, gegen die österreichischen Bestrebungen brav zu schreien“. 1786 übernahm die Akademie der bildenden Künste die Anstalt, 1807 gab es zwei Abteilungen (für Blumenzeichnen und Manufakturzeichnen), 1866 wird die Gewerbezeichenschule, welche Kaiser Ferdinand 1846 bewilligte, vom Polytechnikum getrennt. 1872 beschloß der Wiener Gemeinderat, für das Manufakturzeichnen ein eigenes Gebäude zu bauen, 1882 wird in der Marchetti-gasse die Lehranstalt für Textilindustrie eröffnet und zwölf Jahre später verstaatlicht. Aber erst 1920 hat die Spengergasse durch Ueber--sWaititff de¥rf921 als „Bundeslehränstalt für BliMuSttfes bezeichneten ' Schule ? den zukunftsweisenden Begriff erhalten. Symbolisch: Kaum war der Krieg vorüber, kaum noch notdürftig die Wunden, welche die Zerschlagung der Wirtschaftseinheit der Monarchie hervorriefen, geheilt — und schon ging das klein gewordene Oesterreich an die Arbeit, gegen die Unvernunft wirtschaftlicher Planung der Nachfolgestaaten, gegen vielfältige Apathie im Innern. Und noch einmal, wieder nach einem Kriege, packte man in der Spengergasse fest zu, grub heil gebliebene Maschinen aus dem Schutt und flickte die zerschlagenen. 1946 wurde die Schule in „Bundeslehr- und Versuchsanstalt für Textilindustrie“ umbenannt, später die textilkaufmännische Abteilung auf drei Jahre erweitert, ein Behelfsinternat eröffnet und 1956 die fünfjährige Höhere Abteilung textilkauf-männischer Richtung (Textilhandelsakademie) eröffnet.

EIN ZAUBERHAUS steht in Margareten. Jetzt ist dort in der Spengergasse eine neue Aula entstanden. An allen Ecken und Enden des weitläufigen Komplexes wird gearbeitet, um bis zur Feier des 200jährigen Bestandes im Juni wenigstens in großen Zügen fertig zu werden. Wenn man durch die Gänge wandert, merkt man sogleich, daß dies nicht eine Schule ist wie irgendeine andere. Es liegt ein Schimmer der Kunst auch in den Laboratorien, in den Werkstätten, in den Lehrzimmern über den Dingen. Man redet oft von dem angeborenen Geschmack des Oesterreichers, aber wie er sich entwickelt, wie er gefördert wird, welche Schwierigkeiten zu überwinden sind, wissen nur wenige. Und noch eines: diese Anstalt, in der Fülle ihrer Arbeit, mit der Breite der hier sich bietenden Ausbildungsmöglichkeiten und der hervorragenden Beschickung mit Lehrkräften, von denen jeder Mann eine Kapazität in seinem Fachgebiet ist, hat in ganz Europa kaum ihresgleichen. *

WIR GEHEN DURCH DIE SPINNEREI und vergessen beinahe, daß es keine Fabrik ist. Hier ist eine vollständige englische Baumwollspinnerei installiert mit Putzerei, Karden, Vor- und Feinspinnerei, mit Zwirnerei und Effektzwirnerei. Wenn wir die Mädchen hier überall als selbstverständlich finden, müssen wir uns ins Gedächtnis rufen, daß hier erst seit 1910 die Mädchen zum Studium zugelassen sind. Was wäre aber die Textilindustrie ohne weiblichen Geschmack? Kann man sich heute'ein Bildungsinstitut dieser Art denken, das in weitgehender Weise den Kaufmarkt, und hier wieder die Käuferinnenhand, beeinflußt, ohne daß junge Mädchen studieren können? Sie merken oft kaum, wenn der Besuch durch das Zimmer geht. Der Kopf ist über das Reagenzglas, über das Zeichenbrett, über den Möbelstoffwebstuhl gebeugt. Zwanzig Prozent des Maschinenparks der Weberei, die auf Verarbeitung von Baumwolle beziehungsweise Zellwolle, Seide und Wolle eingerichtet ist, arbeiten automatisch. Die Musterweberei hat 35 Handwebstühle sowie eine Bandweberei. Die Wirkerei verfügt über hundert, meistens moderne Maschinen sow,ie sämtliche Vorbereitungs- und Konfektionsmaschinen. In diesen Hallen kennt man die Weltpolitik nicht. Da steht die Leihgabe aus der Tschechoslowakei neben der westdeutschen, das Erzeugnis der Tiroler neben jenem der DDR. Das Ausland sieht' eine Ehre darin, seine technischen Errungenschaften hier zu erproben. Europa, um das man draußen in der Welt noch immer feilscht, ist längst hier Wirklichkeit geworden. Das hören wir auch,' wenn wir nach der Herkunft der Schüler fragen, nach der Stätte ihrer künftigen Tätigkeit.

WEITER DURCH DIE FÄRBEREI, durch die Appretur, die textilmechanischen und textil-chemischen Versuchsanstalten, durch die Räume der Textilhandelsakademie, wo die Schreibmaschinen klappern, durch die Filmdruckerei und die Schablonenerzeugung, wo Chemiker und Musterzeichner ausgebildet werden. Wer es nicht glaubte, der sieht es hier: Es gibt auch eine andere Jugend als jene, von der die stets mitteilungsfreudigen Gazetten berichten. Eine Jugend der Arbeit, der Verantwortungsfreude. *

ES BLEIBT NOCH VIEL ZU TUN. Eben diese Jugend, die hier aus den Bundesländern zusammenströmt, braucht ein modern eingerichtetes Internat. Zwei oder drei Dutzend Plätze als Behelf genügen nicht. Man kann es den Eltern in Vorarlberg nicht verargen, wenn sie ihre Kinder in die Schweiz oder das nahegelegene Westdeutschland schicken. Von dort sind die Jugendlichen bald zu Hause. Selbst jene Eltern, die sich mit einer durch Ausbildungsgründe bedingten Trennung abfänden, stoßen sich an dem Begriff der großen Stadt, und da ist es gleich, ob es um ein-Mädel oder einen Burschen geht. Wir müssen überdies bedenken, daß entlegene Gegenden, wie das Mühl- und Waldviertel, beide übrigens nicht unwichtig für die Textilwirtschaft, in der Bundeshauptstadt auch eine Bildungsquelle erblicken. Diese kann nur von einem großen Internat aus erschlossen werden. Hier müssen Fach- und Unterhaltungsbüehereien entstehen, Geselligkeitsräume mit Rundfunk und 'Fernsehen, hierher gehören Musikzimmer, Klub-räume, ein Filmvorführsaal, wo man auch Diskussionen abhalten kann. Die Wechselwirkung manueller Tätigkeit und künstlerischer Schau verdient die ernstliche Erwägung, wie man die Bildungsmöglichkeiten der Stadt (Ausstellungen, Messen, Museen, Theater, Konzerte, Führungen durch Fabriken) erschließen kann.

Wir leben in einer Zeit der vorbereitenden Integration Europas. Dort werden nur Men sehen bestehen können, die fachlich und charakterlich in jeder Weise ausgebildet sind. Bis 1918 war die Ergänzung des Nachwuchses noch aus den traditionellen Textilwirtschaftsgebieten, wie Böhmen und Mähren, möglich. Heute befinden wir uns mit diesen und neuen Erzeugungsfaktoren im harten Wettbewerb. Wir müssen nur einen Blick in die Schauläden werfen, wie man von Süden und Westen produktionsmäßig eingreift. Bei Integration wird nur die Qualität bestehen, und Qualität garantiert nur die beste vorangehende Fachausbildung. Wien hat hier die größten Chancen.

IN DER TEXTILWIRTSCHAFT ÖSTER. REICHS haben sich Fortschritte vollzogen, die jenen, geht man aufmerksam von Raum zu Raum, in der Spengergasse keinesfalls nachstehen. Wir hören, daß 8 3.000 Arbeiter und Angestelltevom Wohl und Wehe der Textilien abhängen. Zu diesen 83.000 kommen noch 40.000 Konfektionsangehörige. Das ist ein gewaltiger, lebendiger, sich fortentwickelnder Organismus. Ziehen wir Handel und Gewerbe in Betracht: dann läßt es sich nicht leugnen, daß auch die kleinste Förderung der fachlichen Ausbildung Zinsen trägt, die ziffernmäßig kaum abzuschätzen sind.

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