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Amerikanische Avantgarde

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Edgar Varese, der in Paris geborene Italiener, hätte am 22. Dezember dieses Jahres seinen 80. Geburtstag begehen können. Zwei seiner Hauptwerke standen daher — quasi zur Vorfeier — auf dem Programm eines Konzerts, das die IGNM und das Ensemble „die reihe unter der Leitung von Friedrich Cerha für die Musikalische Jugend Wiens im Museum des 20. Jahrhunderts veranstaltete. Wenige Tage darnach erreichte uns die Nachricht vom Tod des großen Pioniers und Einzelgängers, der seit 1915 in New Yorik lebte, wo in den Jahren 1920 bis 1954 — nach jahrzehntelanger Schaffenspause — die folgenden Werke entstanden sind: „America, „Offran-des, „Hyperprism, „Octandre, „Integrales, „Arcana, „Ionisation, „Density 21.5, „Equatorial und „Deserts, das gegenwärtig auf dem Programm eines modernen Ballettabends der Wiener Staatsoper steht.

„Hyperprism von 1923, für Bläser und Schlagwerk, ist eines der kühnsten Werke Vareses und zeigt bereits jene typischen „Klangmassive, die neben- und gegeneinander bewegt werden, ohne daß einzelne Melodien hervortreten oder „symphonische Entwicklungen (auch keine Reihentransformationen) stattfinden. „Ionisation von 1931 ist für 13 Spieler geschrieben, die — außer einem Klavier und einer Sirene — nur Schlaginstrumente betätigen. Bereits vor 50 Jahren schrieb Varese, daß für ihn Form nicht etwas Gegebenes, zu Füllendes sei. „Ganze Symphonien von neuen Klängen sind in der industriellen Welt aufgekommen und bilden einen Teil unseres täglichen Bewußtseins. Es scheint unmöglich, daß ein Mensch, der sich ausschließlich mit Tönen beschäftigt, durch diese Töne unverändert bleiben kann. Auch sah Varese die Zeit kommen, da zur Realisierung dieser neuen Klänge und Klangvorstellungen Komponisten und Elektrotechniker zusammenarbeiten müßten....

Trotz seines zeitoffenen Geistes haben Vareses Kompositionen — im Unterschied zu denen der italienischen Bruitisten Marinetti und Rus-sollo — kein Programm. Wie schon die Titel zeigen, handelt es sich bei Varese um „absolute Musik, die seinen Zeitgenossen so unverständlich blieb, daß er länger als irgendein anderer aus der Reihe der Pioniere der neuen Musik auf seine Würdigung beziehungsweise Entdeckung warten mußte. Etwa seit 1955 ist das Interesse an Vareses Werk erwacht, und gleichzeitig entdeckte man, daß es in Amerika nicht nur Gleichstrebende, sondern auch Vorläufer Vareses gab — deren Werke er aber kaum gekannt haben dürfte — während er mit der europäischen Avantgarde Kontakt hatte, aber eben, wie gesagt, seine eigenen Wege ging.

Denn auch Charles Ives, im gleichen Jahr wie Schönberg (1874) geboren, und der zwei Jahre jüngere Carl Ruggles waren völlig von ihrer musikalischen Umwelt isolierte Einzelgänger. In dem gleichen Konzert, dessen Programm von den zwei genannten Werken Vareses gewissermaßen wie in einem Eisenrahmen gefaßt war, wurden auch sechs Stücke von Ives gespielt, die — keines länger als drei und keines kürzer als sieben Minuten — in den Jahren 1906 bis 1915 geschrieben worden sind (also gleichzeitig mit Schönbergs „Verklärter Nacht, den Stefan-George-Liedern u. a.). Sie zeigen polytonale und polymetrische Strukturen, in einem Scherzo von 1906 gibt es, etwa in der Mitte des Stückes, eine Kadenz, die von allen neun Spielern gleichzeitig und ad libitum ausgeführt wird — also Aleatorik vor 60 Jahren! Und in einem Stück mit einem langen symbolistischen Titel von 1912 für sechs Bläser, Streichquintett, Klavier und Schlagwerk finden sich variable Metren, wie sie Boris Blacher 30 Jahre später erfand und anwendete. Auffallend bei Ives ist die originelle, zuweilen gefällig-elegante Instrumentierung. Aber sie half ihm ebensowenig wie die Kommentare, die er seinen Werken mitgab, etwa den „Tonroads I: „Über die rauhen und steinigen Straßen sind unsere Vorväter ihren Weg gegangen, zur Dorfkirche, zum Erntefest oder zur Ratsversammlung, und sie standen auf und sagten, was sie dachten, ohne Rücksicht auf die Folgen. Das tat auch Ives, aber 1916 hörte er auf zu komponieren, gründete eine Versicherungsfirma, wurde bald Millionär und erklärte seine Werke für vagelfrei, das heißt, jeder durfte sie ohne Entrichtung von Tantiemen spielen und nach Belieben verändern.

Von C. Ruggles, der seine Werke zwischen 1920 und 1930 schrieb (darnach gab er gleichfalls das Komponieren auf), wurde an diesem Abend nur ein einziges Dreiminutenstück gespielt. Es führt den Titel „Angels und ist für vier Trompeten und zwei Posaunen (ursprünglich für sechs Trompeten) gesetzt: zuwenig, um darnach den Komponisten beurteilen zu können, aber genug, um sein Opus der Aufmerksamkeit unserer jüngeren Musiker dringend zu empfehlen. Eine Kantate von Ruggles führt den bezeichnenden Titel „Vox clamans in deserto...

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