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An diesem Ende gewinnen die Röme

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In einer Zeitung konnte man vor kurzem einen aufschlußreichen Witz finden. Unter einer Ginemascope-Leihwand, breit wie die Sesselreihen im Zuschauerraum, sitzt ein Ehepaar — der Mann schaut nach links, die Frau nach rechts. Ein wildes, unübersichtliches Kampfgetümmel tobt auf der Breitwand. Da wendet sich die Frau zum Mann mit der Frage: „An diesem Ende gewinnen die Römer — an deinem Ende-auch?“

Ein historischer Wendepunkt in der Geschichte des Films ist erreicht: seit der Einführung von Cinemascope (bzw. Cinerama, Panorama, Vistavision oder wie die in ihren Breitenmaßen nur um ein Geringes von einander abweichenden Breitwandsysteme der verschiedenen Produktionsfirmen heißen mögen) können wir das auf der Leinwand projizierte Bild nicht mehr mit einem Blick umfassen. Es ist wie in der Wirklichkeit: wir haben den Ueberblick verlören. Wir können nicht mehr alles, was geschieht, überschauen. Unser Blickfeld ist kleiner als die Bildfläche.

Der Film ist in seiner geschichtlichen Entwicklung den Weg des geringsten Widerstandes gegangen. Er ist den Weg des technischen Fortschrittes und der künstlerischen Regression gegangen.

Als der Stummfilm aufkam, schien es zunächst, als würde der Film den anderen Weg gehen. Aus Anfängen, die lediglich der Volksbelustigung dienten, aus Fall- und Prügelszenen, die vor allem zeigen sollten, daß die neue Kunst der Malerei eines voraus hat, nämlich die Beweglichkeit, entwickelte sich der Film in den zwanziger Jahren zu seiner bisher höchsten Blüte. Werke wurden geschaffen, die Dinge sagten und Einsichten gaben, die sich durch keine andere Kunstgattung, weder durch die Malerei noch durch das Wort, wiedergeben ließen. Das, was uns die Filme Chaplins und Fritz Längs, Eisensteins und Griffirns* gaben, war nur durch die Kinematographie möglich. Der technische Fortschritt ging mit der künstlerischen Entwicklung Hand in Hand. Das Bild wurde ruhiger, flimmerte weniger, die Kamera leistete immer bessere Arbeit, immer neue, erregende Wirklich-keitsausschnitte wurden entdeckt und durch immer vollkommeneren Schnitt aneinandergereiht und einander gegenübergestellt.

Mit dem Aufkommen des Tonfilms kam dann der erste große Wendepunkt in der Filmgeschichte. Die Entwicklung ging nun — von mutigen Versuchen weniger Einzelgänger abgesehen, die bald als Experimentierer verschrieen waren — nicht mehr konsequent auf künstlerische Vervollkommnung zu, sondern in die entgegengesetzte Richtung: ihr Ziel war die Annäherung an die äußere Wirklichkeit. Nach dem Tonfilm kam der Farbfilm. Nach dem Farbfilm, als vorläufig letzte Station: der Breitwandfilm, Cinemascope. Hatte der Normalfilm das Standardformat von 1:1,33, so hat Cinemascope nun ein Format von 1:2,55. An diesem Ende der Filmentwicklung haben die Römer gewonnen ...

Wenn wir die kleinen Kunststücke und Einfälle Charlie Chaplins sahen, brauchten wir nicht Ton und Tiefenschärfe, Farbe oder sonstwas dazu, denn im Bild sahen wir alles, die ganze Welt. Eben dieses Zusammenfassen der Wirklichkeit in eine einzige Dimension, in das Hörbare oder in das Sichtbare, macht ja die Kunst aus. Sache der Kunst ist Andeutung, nicht Ausführung, Beschränkung, nicht Erläuterung.

Kunst erreicht uns immer nur über ein einziges Sinnesorgan. Der Gedanke eines „Gesamtkunstwerkes“, das uns gleichzeitig über alle denkbaren Sinnesorgane erreichen soll, ist längst indiskutabel geworden. Weltgehalt und Wert eines Kunstwerkes werden durch die Evokations-kraft ihrer Elemente bestimmt. Denn Welt verspüren wir in der Kunst immer nur durch ein Medium, in dem die Wirklichkeit verdichtet vorhanden ist. Kunst ist Weglassen.

Als wir im Kino einen Schwarzweißfilm sahen, merkten wir nicht, daß ihm die Farben fehlten. So selbstverständlich war es uns, diesen „Fehler“ durch die eigene Anteilnahme zu ergänzen, daß er uns nie recht bewußt wurde. Es störte uns auch nicht, daß der Tonfilm nur eine einzige Tonquelle hatte, daß nur in der Mitte hinter der Leinwand ein Lautsprecher war, aus dem alle Stimmen und alle Geräusche kamen. Es fiel uns nicht auf. Unsere Apperzeption formte aus den Eindrücken, die die Sinnesorgane empfingen, eine ganze Welt.

Dann kamen die Farbfilme. Und wir begannen, Schwarzweißfilme — vor allem, nachdem die Farben des Technicolorsystems „getestet“ worden waren und annähernd den Farben der Wirklichkeit entsprachen — als etwas Unvollkommenes anzusehen, so wie uns vordem Stummfilme unvollkommen im Vergleich zum Tonfilm erschienen waren.

Und nun sehen wir Breitwandfilme und merken, wieviel unsere innere Anteilnahme bisher vermochte. Wir haben Stimmen bestimmten Darstellern zugeordnet, obwohl bildliche Erscheinung und Tonquelle vielleicht meterweit auseinanderliegen. Wir haben uns auf den Vordergrund konzentriert und die fehlende Tiefenschärfe nicht beachtet. Wir waren imstande, aus Hell und Dunkel, aus Licht und Schatten uns eine Welt in bunter Vielfalt aufzubauen. War es nicht das Schönste am Schwarzweißfilm, daß er unserer Phantasie wenigstens noch einen gewissen Spielraum überließ (lang nicht soviel zwar wie im Roman, aber immerhin), daß er irgendwo noch offen war, wenn er es unsere Sache sein ließ, uns die Farben für die Kleider der schönen Damen auszudenken, oder einen herbstlichen Garten auszumalen?

Wir werden uns rasch an Cinemascope gewöhnen. Es ist zu fürchten, daß er uns so verwöhnen wird, daß wir einen Schwarzweißfilm mit einer einzigen Tonquelle, ohne beweglichen Ton und ohne Lautsprecher auch in unserem Rücken (etwas, was die Fachleute Stereoton, Raumton nennen),- a einmal nicht mehr werden ertragen können. Er wird uns zu schwer sein. Unsere Fähigkeit, das Fehlende zu ergänzen, und unsere Phantasie werden verkümmert sein. Wir werden es überdrüssig sein, im Kino noch irgend etwas zu leisten.

Vielleicht werden wir einmal sogar nach ,.Feelies“ verlangen, wie sie Huxley in seinem Buch „Schöne neue Welt“ voraussagt, nach Filmen, die unseren Tastsinn ansprechen. Wir werden vielleicht einmal nur noch Handgreifliches „fühlen“ können ... Vielleicht auch werden wir mit der Zeit darnach verlangen, Parfüm und Rauch, südliche Häfen und den Nebel Londons zu riechen. Ach, wieviel an Parfüm oder Nebel, Rauch oder Fischgeruch lag einst in der Luft, wenn wir ein gut photographiertes Bild sahen, schwarzweiß ...

Cinemascope ist auf dem besten Wege, die Kinderkrankheiten zu überwinden. Mit „Jenseits von Eden“ sind nun schon Interieuraufnahmen geglückt. Was wir oft noch als Hauptmangel empfinden, ist das plötzliche Üeberspringen des Tones von einem Lautsprecher zum anderen. Ein Mensch bewegt sich von links nach rechts. Seine Stimme kommt zuerst aus der Tonquelle ganz links, dann, auf halbem Wege springt sie zur mittleren und ist nun nicht mehr hinter ihm, sondern voraus. Der Mann macht eine Wendung: die Stimme springt zurück. Doch wird sich auch für diesen Mangel an Wirklichkeitstreue Abhilfe schaffen lassen.

Durch Cinemascope wird, so betont die Reklame der Verleihgesellschaften, eine bisher ungeahnte Teilnahme an der Wirklichkeit möglich, fremde Länder tun sich vor uns auf... Aber diese sogenannte Teilnahme am Geschehen enthüllt sich bei näherer Betrachtung als eine Verdammung zu völliger Passivität. Der Zuschauer wird zwar in die Filmhandlung einbezogen, aber nicht als Mitspieler, sondern als Opfer. Cinemascope ermöglicht nicht die Teilnahme an der Wirklichkeit, sondern erweckt nur die Illusion der Teilnahme. Wir beherrschen die Breitbildleinwand ebensowenig wie wir die Wirklichkeit beherrschen.

Solange der Film sich darauf beschränkte, uns überblickbare Ausschnitte der Wirklichkeit zu geben, tat er das, was wir im täglichen Leben auch tun. Nie wird sich das menschliche Auge mit dem Auge der Cinemascopekamera — oder richtiger der Cinemascopekameras — identifizieren können.

Das Nichtbeherrschen der Wirklichkeit wäre künstlerisch ganz anders auszudrücken als durch Cinemascope. Etwa so, wie es — in einer anderen Kunstgattung — Hamsun in seinem Roman „Mysterien“ getan hat. Dort wissen wir nicht, was wirklich geschieht, was sich hinter den sichtbaren Dingen und Geschehnissen verbirgt, was in den Menschen vorgeht. Jede Handlung läßt mehrere Deutungen zu. Die Vorgänge sind uns nicht recht erfaßbar. Das eigentliche Geschehen verbirgt sich in vielerlei Ereignissen. Ein englischer Film nach einem Roman Greenes „The man within“ versuchte einmal Aehnliches, Marcel Carn6 realisierte es in „Les visiteurs de soir“.

Wo keine Verwandlung ist, da ist nur Reproduktion möglich. Diese läßt sich der Beschauer, der sich selbst vergessen und nicht sich selbst finden will, gefallen, auch wenn er sie nicht versteht. Es ist wie bei allen Reproduktionen: man merkt es nicht, wenn man sie nicht versteht. Die Tatsache, daß es sich nur um Reproduktionen handelt, hat etwas ungemein Beruhigendes. Nur das Unmittelbare erschreckt.

Es ist der große Vorteil des Breitwandfilms, sehr viel zur Klärung der Begriffe beizutragen. Wer von Film Kunst verlangt, wird in Zukunft ins Artkino gehen müssen, wo er Schwarzweißfilme, vielleicht sogar solche, die mit der Schmalfilmkamera aufgenommen wurden und keinen Ton haben, sehen kann. Und wer sich vom Film in fremde Länder entführen lassen will, also Lust auf die Illusion von Wirklichkeit hat, wird ins Breitwandkino gehen, In Großreportagen und Dokumentarfilmen, die geographische und ethnologische Fakten anschaulich machen, liegen die Möglichkeiten von Cinemascope. Einstweilen krankt dieses System noch an sich selbst: wie die ersten Stummfilme mit der Bewegung, die ersten Tonfilme mit dem Ton, die ersten Farbfilme mit ihrer Buntheit prunkten, so prahlt der, Breitwandfilm vorläufig noch.mit,seiner Breite, läßt Tausende voa Statisten ;{jneist in historischen Schinken) auftrete, die selbst die großen Stars in den Hintergrund drängen. Aber das wird sich ohne Zweifel geben ...

Der Eigenwert des Breitwandfilms liegt in der Reproduktion der Wirklichkeit. Auch diese hat Vorteile. Sie bedeutet zunächst einmal das Ende der Kulisse, der bemalten Attrappen. Dann den Zwang, in zunehmendem Maße wenig bereiste Gebiete aufzusuchen, um dem Filmpublikum etwas Neues bieten zu können, oder von bekannten Städten neue Ansichten zu bieten (so in „Drei Münzen im Brunnen“, dem meistbesuchten Film des vergangenen Jahres!)- Dann die Wiedergabe des Wechselspieles von Tierstimmen in freier Wildbahn, des Wanderns von Geräuschen.

Die Fronten sind klar. An diesem Ende der Entwicklung des Films — dem technischen Fortschritt — hat die Zivilisation der Römer gesiegt, die Illusion der Wirklichkeit. Hoffen wir, daß am anderen Ende die Ursprünglichkeit der „Barbaren“, der Pioniere des künstlerischen und experimentellen Films siegen wird!

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