6572204-1950_25_12.jpg
Digital In Arbeit

Anklage und Verteidigung der modernen Kunst

Werbung
Werbung
Werbung

Die These Huber-Wiesenthals lautet: Die Veränderungen auf dem Gebiet der neuen Kunst sind, verglichen mit den Neuerungen und Revolutionen vergangener Epochen, ungeheuerlich, werden aber von einem Teil der Kunstkritik bagatellisiert. Ein snobistisches Publikum, verleitet durch eine entsprechende Kustkritik, verehre in einigen zeitgenössischen Künstlern „Klassiker“, deren Wert und Bestand — nach der Meinung des Autors — längst nicht erwiesen ist. Als „modern“ in der bildenden Kunst gilt dem Verfasser, was sich von der traditionellen Naturdarstellung gewaltsam entfernt hat, demnach die Malerei seit Cezanne und van Gogh mit den rasch wechselnden Richtungen: Neoimpressionis-mus, Jugendstil, Futurismus, Expressionismus, die Gruppe der Fauves, Kubismus, Verismus, abstrakte Kunst, Surrealismus und Konstruktivismus. Jeder dieser Stile wird durch je ein charakteristisches Bild belegt. Als den tieferen Grund dieses raschen Wechsels der Stile erkennt der Autor die Vakuumkrankheit, den Substanzverlust, nicht nur in der Kunst, sondern im gesamten modernen Leben. Eine weitere These: Da Kunst immer ein Ergebnis aus künstlerischer Kraft und dem Widerstand der Umwelt, beziehungsweise der Gesellschaft sei, wird das Fehlen aller Hemmnisse für die Künstler zum Verhängnis. Einen anderen Grund für den Verfall der Kunst sieht der Autor durch die im Verlauf des 19. Jahrhunderts immer mehr um sich greifende Verweltlichung, welche das Fehlen eines einheitlichen Epochenstils bedingt. Die unmittelbare Folge hievon ist das Uberhandnehmen des Kitsches und die Verfemung des Ornaments, wie es innerhalb der genannten Richtungen zu beobachten ist. Stil aber ist das Schicksal einer Zeit und ihrer Kunst: „Stil wollen ist vollkommene Unkunst“. Als Beispiele künstlichen Stils bezeichnet der Autor, der seine Thesen durch zahlreiche Parallelen aus den Nachbarkünsten stützt, das Werk Richard Wagners, Böcklins und der englischen Präraffaeliten. Als Revolte gegen den Zeitstil erscheint das Werk Gauguins, dessen Flucht aus Europa symbolische Bedeutung habe. Der Geist des Aufruhrs spricht auch aus den Werken Tolstois, Ibsens, Strindbergs und Hauptmanns. Eine analoge Erscheinung sei auch der Exot Ismus in der neuen Musik und der Regreß auf das Vorkulturelle, etwa im Werke Strawinskys. Alle diese Bewegungen und Symptome seien zwar aus der Zeit zu erklären. Aber nicht aus ihren Ursachen, sondern allein durch die Größe und Echtheit der Schöpfungen legitimiere sich die wahre Kunst. Der Verlust jener Einheit des körperlichen und visionären Schauens, der das Kennzeichen der klassischen Kunst ist, erscheint als die wahre Ursache des Verfalls der modernen Kunst. Deren Werke sind viel weniger „meisterlich“: die Ablehnung des Schönen geschähe aus Unfähigkeit. Man suche Originalität um jeden Preis, plakatmäßige Wirkung. Die klaren und vollkommenen Formen seien in der bildenden Kunst zum erstenmal im Barock, in der Musik eigentlich schon durch Mozart zerstört worden. Seither sei ein verhängnisvolles Übergewicht des Intellekts festzustellen, „Triumph maßvoller Planung über das schweifende Gefühl“, wie es Strawinsky formuliert hat. Den Verfall der modernen Kunst demonstriert der Autor an den zwölf Stilen Picassos und stellt die Frage, ob im Bereich echter Kunst solche radikale Wandlungen überhaupt möglich seien. Die Triebfeder von Picassos Schaffen seien Virtuosität und das Streben nach Sensationen und Amüsement. Als charakterische Parallelerscheinung auf dem Gebiet der Musik führt der Autor das Werk Eric Saties an, zu dem Debussy einmal sagte: „Geben Sie acht. Sie spielen ein gefährliches Spiel! In Ihrem Alter wechselt man seine Haut nicht mehr.“ Ein e i n-z i g e r Wechsel sei im Werke eines Künstlers möglich: beim Übergang von den Frühwerken zur reifen Meisterschaft. Die obersten Forderungen an den Künstler heißen: Wahrhaftigkeit und Mut — Eigenschaften, die der Autor nur bei einzelnen zeitgenössischen Künstlern finden kann.

Andreas Ließ sieht die Aufgabe des Kunstkritikers und Kulturphilosophen, der sich mit der zeitgenössischen Kunst beschäftigt, vor allem darin, den Blick für das Positive zu schärfen. Zu einem negativen Urteil könne man nur gelangen, wenn man lediglich einzelne Phasen und ihre extremen Erscheinungen ins Auge faßt. Habe man einmal die „Zielstrebigkeit“ aller dieser Wandlungsprozesse begriffen, so bemerke man auch, daß alles auf ein neues Gleichgewicht der Elemente in emer neuen Ordnung tendiere. Ein Begreifen der zeitgenössischen Kunst sei nur mit Hilfe der kulturgeschichtlichen Methode möglich. Besonders die Naturwissenschaft und die moderne Philosophie, welche auf dem Wege zur Ganzheit schon viel weiter vorgeschritten seien, eröffnen positive Ausblicke. Auch die Entwicklung der Technik und das Großraum-denken unserer Zeit müssen bei der Beurteilung der zeitgenössischen Kunst — es geht dem Autor vor allem um die neue Musik — berücksichtigt werden. — Wohl sei der „Einbruch des Elementaren“ nicht ohne Gefahr, doch bewirke er zugleich auch eine Reinigung, „daß der Geist sich wieder auf seine Urbin-dung mit dem Leben besinnt“. Auch erkennt Ließ im Elementaren ein wesentliches Element des Schöpferischen. Die „neue Sachlichkeit“ als Erscheinung und als Lebensgefühl gliedere den Menschen wieder m die großen Zusammenhänge. Gerade aus der neuen Sachlichkeit, welche auch die alten Formen mit einem wklich neuen Geist erfülle, erwachse ein neuer tragfähiger Humanismus, eine neue Religiosität. Diese Tendenzen seien vor allem in der Entwicklung der zeitgenössischen Kirchenmusik, etwa im Werke des Franzosen Messiaen, deutlich abzulesen. Ein Symptom — nicht aber ein Zeichen der Schwäche und der Unfähigkeit — sei die Verdrängung des Geniebegriffes zugunsten der Betonung des Handwerklichen. Im extremen Fall erscheine in der neuen Musik die Verarbeitung wichtiger als der Einfall. Diese Tendenz spiegelt sich vor allem in der „absoluten Musik“ und in der Volksmusikbewegung als Ausdruck des Elementaren. Objektivierung, Stilisierung und Typisierung erscheinen als weitere Kennzeichen der neuen Musik, welche auch die Welt der Großstadt mutig einbeziehe. Die große Synthese, wie sie in den modernen Naturwissenschaften geleistet sei, ist noch nicht in allen Werken der zeitgenössischen Musik verwirklicht. Ein gewaltiger Prozeß der Verinnerlichung der neuen Lebens- und Kunstformen bahne sidi an, der breiter ausgreife und tiefer reiche als der Individualismus des 19. Jahrhunderts. Im zweiten Teil seines Buches zeichnet Ließ, durch zahlreiche Notenbeispiele illustrierend, das „Anschauungsbild der zeitgenössischen Musik“ (S. 169 bis 217). In dem bekenntnishaften Kapitel „Beethoven und wir“ findet sich der fundamentale Satz: „Je weiter der Ausgriff im

Rationalen, desto weiter muß der Ausgriff auch im Gefühlsmäßigen, im Irrationalen, im Innerlichkeitsbezug der Musik sein, um das Gleichgewicht herzustellen.“ Es geht also vor allem um eine Vertiefung der neuen Sachlichkeit. Alle Ubergangserscheinungen, so hart sie zunächst wirken mögen, sind Not-Wendigkeiten in des Wortes wörtlicher Bedeutung. Ihr Ziel ist: ein neues Weltbild, ein neues Menschentum, das sich formen will.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung