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AUF RILKES SPUR IM WALLIS

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Da mich mein Reiseweg im Sommer 1965 wieder in das schöne Wallis führte, lockte die Gelegenheit, die Gedenkstätten Rainer Maria Rilkes zu besuchen. Es sind im Wallis, genau genommen, deren drei.

Nach einem kurzen Besuch in Raron gönnte ich mir einen ganzen Tag und fuhr zunächst nach Sierre (Siders). Da das Fremdenverkehrsamt geschlossen war, kam mir bei einem Besuch der neuen, schönen Eglise Sainte Croix der Gedanke, im Pfarramt anzuläuten, um dort in einen Plan von Siders einzusehen und mich leichter orientieren' zu können. Mit großer Liebenswürdigkeit verschaffte mir ein Kaplan am Polizeiamt Prospekte und führte mich dann mit seinem Wagen weiter nach Muzot und zum Rilke-Museum im Chä-teau Villa.

Ich war ob dieser Freundlichkeit sehr froh. Denn nach Muzot hätte es einen beschwerlichen, drei bis vier Kilometer langen Weg bergauf gegeben, und außerdem gewann ich kostbare Zeit. Muzot ist ein kleines, immerhin zweistöckiges Schlößchen, in einem lieblichen, mit Weingärten bestandenen Hügelgelände gelegen. Man kann es von der Bahn aus nicht sehen, denn es thront in einer kleinen Senke, zu vergleichen dem Gelände unmittelbar hinter der Pöstlingbergkirche in Linz. Ganz in der Nähe des Schlößchens Muzot steht aber ein Gebäude ganz ähnlicher Bauart, nämlich mit Treppengiebel, das man neben einer Kirche von der Bahn aus sehr gut sehen kann. Im Chäteau de Muzot hat Rilke 1921 bis 1926 gelebt. Hier vollendete er die wichtigsten seiner Werke: die „Duineser Elegien“ und die „Sonette an Orpheus“. Sein Aufenthalt hier war durch Reisen, Aufenthalt bei Freunden und im Krankenhaus sowie durch zeitweiliges Wohnen im Hotel Bellevue in Sierre unterbrochen. Seit dem Tode seines großen Mäzens, des Großindustriellen Werner Reinhart aus Winterthur, damaliger Besitzer von Muzot, ist das Innere des Schlößchens Besuchern nicht mehr zugänglich. Nun liegt es verträumt wie ein Märchenschloß in der herrlichen Sonne (Siders führt die Sonne im Wappen). Ich hörte von allen Personen in Sierre das Wort „müsot“ mit Betonung auf der letzten Silbe aussprechen. Auf meine diesbezügliche Frage meinte ein Beamter der Police municipale, das geschehe deshalb, weil „müso“ im Französischen soviel wie Rüssel bedeutet. Bei einem späteren Gespräch mit einem Schweizerischen Gymnasiallehrer bekam ich die Auskunft, daß der Westschweizer im Unterschied zum Franzosen überhaupt dazu neigt, Schlußkonsonanten in französischen Wörtern auszusprechen. Übrigens findet sich auch die Schreibweise Musotte.

Im ersten Stockwerk des Chäteau Villa auf der Relais du Manoir im nördlichen Siders befindet sich ein der Gemeinde gehöriges Stadtmuseum, worin ein mäßig großer Raum Rilke gewidmet ist. („La salle du Souvenir Rilke.“) Hier zeigte mir der sehr freundliche Concierge, der Hausgärtner des Schlosses, mit großer, mitteilsamer Liebenswürdigkeit sehr gut ausgewählte, überaus sorgfältig geschriebene, fömilich „gestochene“ Originalbriefe Rilkes, fast alle im gleichen, verhältnismäßig kleinen Hochformat, femer Bilder, Buchausgaben, ein Originalphoto, auch ein Gemälde, das Begräbnis Rilkes darstellend, und eine getreue Nachbildung des Stehpultes, an dem Rilke stehend zu arbeiten pflegte. Die Oberfläche dieses Pultes liegt in angenehmer Höhe, sie ist völlig eben und sehr bequem zum Schreiben. Darunter sind zwei, je die ganze Breite einnehmende Tischladen und noch etwas weiter darunter ein bei den Knien nach innen eingerundetes Brett. Auf dem Pult steht eine Vase mit einer Rose, genau so, wie Rilke zu Lebzeiten sie immer vor sich hatte. Im Gästebuch finden wir neben vielen Eintragungen von Personen aus aller Welt unter dem 20. Juli 1959 auch die Namen „Ruth Fritsche, geb. Rilke, Willy Fritsche und Uta Frditsche“ (Es handelt sich bei Ruth Fritsche um eine Tochter Rilkes); unter dem Datum vom 11. September 1961 und Anfang September 1965 zwei Eintragungen von Walter von Gruner, Wien, die auf Rudolf Kassner hinweisen, den „größten Freund R. M. Rilkes, der 1959 in Sierre gestorben ist'“ und dessen mit einer besonderen Inschrift versehenes Grab man aufsuchen solle. Da ich vor der Abfahrt noch genügend Zeit hatte, den ganz in der Nähe des Bahnhofs gelegenen neuen Gartenfriedhof zu besuchen, fand ich das Grab Rudolf Kassners als letztes Grab ganz hinten links auf dem Friedhof. Die eigenartige Inschrift aber lautet:

Vielleicht war es früher so dass ein Mensch einfach bis zur Grenze ging und dort starb er dann und das ewige Leben begann.

Seit Jesu Christo geht aber die Grenze mit und so weiß niemand im Grunde wann und wo das ewige Leben beginnt.

Noch einmal besuchte ich Raron. Sinnend stand ich wieder einmal vor dem schlichten und doch so feierlich wirkenden Grabe mit der rätselhaften Grabinschrift:

RAINER MARIA RILKE

ROSE, OH REINER WIDERSPRUCH,

LUST,

NIEMANDES SCHLAF ZU SEIN

UNTER SOVIEL

LIDERN.

Seit meinem Besuch im Jahre 1959 hatte sich am Grabe etwas geändert: eine schwere Grabplatte bedeckte jetzt das Grab; Frau Fritsche hatte sie auf das Grab legen lassen. Über die Inschrift war ich mir schon lange klar, oder vielmehr, ich hatte geglaubt, mir über deren Deutung klar zu sein, Ms ich nun gerade in Raron andere Interpretationen hörte, die mir auch plausibel vorkamen.

Besonders aber hatte mich seit Jahren die Frage interessiert, ob Rilke kirchlich begraben worden sei. Im Jahre 1959 hatte ich im Pfarrhof von Raron um das Sterbebuch gefragt; das Buch war damals nicht auffindbar. Diesmal sollte ich die Steibeeinltragung finden. Sie steht im Liber Mortuorum D 84, das die Jahre 1812 bis 1928 umfaßt. Die Eintragung lautet: „Anno millesimo nongentesimo vigesimo sexto, die vero vige-sima nona Decembris mortuus est“ in Montreux et die secunda Januarii 1927, sepultus est in coemeterio Raronensi: Rainer Maria Rilke natus in Prag in Tsohekoslovaque anum (sie!) agens quinquagesimaum secundum. In fidem Mathieu Pax.“

In den Jahren seit 1959 hatte ich namentlich in Brig, Raron und Siders nach authentischen Berichten nachgeforscht und folgendes als glaubwürdig befunden:

Als Rilke am 29. Dezember 1926 gestorben war, las man in seinem „am 27. Oktober 1925“ geschriebenen Testament: Auf dem Umschlag: „Einige persönliche Bestimmungen für den Fall einer mich mir mehr oder weniger enteignenden Krankheit.“ Unter den sieben Punkten des Textes: „2. Geschieht es, daß ich auf Muzot oder überhaupt in der Schweiz sterbe, so wünsche ich, weder in Sierre noch etwa in Miege (Ortschaft nächst Muzot. Der Verf.) beigesetzt zu sein...“.

„3. Sondern ich zöge es vor, auf dem hochgelegenen Kirchhof neben der alten Kirche zu Rarogne (sie!) zur Erde gebracht zu sein. Seine Einfriedung gehört zu den ersten Plätzen, von denen aus ich Wind und Licht dieser Landschaft empfangen habe, zusammen mit all den Versprechungen, die sie mir, mit und in Muzot, später sollte verwirklichen helfen.“ In Punkt 4. die genaue Anweisung hinsichtlich Grabstein und Grabinschrift. Aber schon in Punkt 1: „Sollte ich in eine schwere Krankheit fällen, die am Ende auch den Geist verstört, so bitte ich, ja beschwöre ich meine Freunde, jeden priesterlichen Beistand, der sich andrängen könnte, von mir fernzuhalten. Schlimm genug, daß ich, in den körperlichen Nöthen meiner Natur, den Vermittler und Verhandler, im Arzte, zulassen mußte; der Bewegung meiner Seele, aufs Offene zu, wäre jeder geistliche Zwischenhändler kränkend und zuwider.“

Freilich, Rilke hatte noch zum Andenken an seinen 50. Geburtstag (4. Dezember 1925), ein Jahr vor seinem Tode, eine fromme Stiftung gemacht und unter einem erheblichen Geldopfer die Sankt-Anna-Kapelle gegenüber seinem Häuschen Muzot restaurieren lassen. Aber auf seinem Schreibtisch fand man unter anderen angefangenen Arbeiten doch jenen „Brief eines Arbeiters“, im Geiste an seinen Freund Valery gerichtet, worin er wiederum seinem lebenslangen Ressentiment gegen ein Christentum, wie er es von seiner Mutter und an seiner Mutter kennengelernt hatte, leidenschaftlichen Ausdruck verleiht und sich abermals ausdrücklich gegen Christus wendet. (Siehe hierüber die Ausführungen bei J. R. von Salis, „Rainer Maria Rilkes Schweizer jähre“, Frauenfeld, 1952, 3. Auflage, Seite 219 ff. und Bert Herzog, „Über Rilkes Antichristlichkeit“ in „Stimmen der Zeit“, Band 159, 1956—57, Seite 41 ff.)

Als nun von Siders die Anfrage kam, ob Rilke auf der Burghöhe in Raron beerdigt werden könne, weil er dies gewünscht habe und weil Rilke kein praktizierender Katholik gewesen war, fühlte sich Pfarrer Mathieu von Raron verpflichtet, bei der bischöflichen Kanzlei in Sion (Sitten) die Erlaubnis zur Beerdigung einzuholen. Der Bischof war um diese Zeit abwesend. Der Kanzler gab den Bescheid: falls kein Gegenbericht kommt, könne Rilke in Raron kirchlich beerdigt werden. Unterdessen ließen Pfarrer und Büxgermeister ein Grab an der Breitseite des Kirchleins ausheben: Sollte das kirchliche Begräbnis verweigert werden, so war dieser Platz ja außerhalb des geweihten Gottesackers; wurde das kirchliche Begräbnis gestattet, so konnte das Grab für sich eingeweiht werden. Und auf jeden Fall war es ein vornehmer Platz; die Freunde Rilkes waren gern damit einverstanden, daß Rilke nicht einfach unter anderen Leuten begraben werde.

Der Gegenbericht kam nicht, und so wurde Rilke am folgenden Tag kirchlich bestattet. Es war nur ein kleiner Kreis von Rilkes engeren Freunden hei der Beerdigung. Die Leute in Raron haben Rilke nicht gekannt und haben gedacht, daß von seinen Freunden ja viele kommen würden. Nur dem Postträger, dem Bruder des Bürgermeisters, war aufgefallen, daß Rilke oft von der Bahnstation auf die Anhöhe geeilt war, wo das Kirchlein steht, und dort stundenlang, an der Umfriedungsmauer stehend, ins Tal geblickt oder geschrieben hatte, und dann wieder ebenso scheu zur Bahnstation zurückgekehrt war. Nach einigem Überlegen mußte sich der Präsident (Bürgermeister) des Ortes ausnahmsweise selbst dazu entschließen, bei der Beerdigung das Kreuz voranzutragen. Doch war auch eine heilige Messe bei dem Begräbnis — der Sarg stand während der Messe in der Kirche —, es wurde dabei die Orgel gespielt und eine mit Rilke befreundete Künstlerin aus Mailand hat dabei gegeigt. — Die Kinder des Präsidenten mit einigen anderen Kindern aus Raron bildeten nach Landessitte einen Kreis um das Grab und hielten in frostblauen Händen Kränze hoch. Im Auftrag des Schweizerischen Schriftstellervereins sprach Eduard Korrodi Worte des Abschieds; für die Freunde aus dem französischen Landesteil sollte ein französischer Dichter sprechen, aber er konnte nur weinen und sagte: „Adieu, grand poete!“ Am Abend desselben Tages kam schließlich von der bischöflichen Kanzlei ein Anruf, Rilke dürfe nicht kirchlich beerdigt werden ... Man deutete diese Fügung später dahin: der liebe Gott habe zeigen wollen, daß Er den großen Toten doch angenommen habe. Diese Verkettung der Umstände scheint wie ein Zeichen der Milde Gottes dem Mann gegenüber, der, nach frühen, schweren Seelenkämpfen, der Erde zugetan, seine religiöse Haltung in freieren, nicht konfessionellen, ja nicht eigentlich christlichen Formen gelebt und bekannt hatte. (Vergleiche die schon erwähnten Ausführungen bei Salis und Herzog.)

Genau jener Stelle der Kirchenmauer gegenüber, an der Rilke oft dichtend gestanden, seine Duineser Elegien beendet und ins Tal hinab, aber auch zum Himmel hinauf geblickt hatte, liegt nun das Grab Rilkes, von Rosen überwuchert, einsam und feierlich, an der sonnigen Breitseite des weit das Tal überragenden Kirchleins, jeden Besucher zutiefst ergreifend und mit Ehrfurcht, aber auch mit stiller Wehmut erfüllend.

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