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Auf roten Promenaden

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AUCH HINTER DEM EISERNEN VORHANG beginnt es langsam möglich zu werden, den Urlaub mit einer längeren Reise zu verbinden oder an einer Seeküste mit südlichem Charakter zu verbringen — wenn der Jahresverdienst dazu reicht. Im Osten ist nicht nur derselbe Drang wie im Westen festzustellen, auch andere Länder zu sehen — man hat dort ein noch viel stärkeres Bedürfnis, möglichst kontrastreich aus dem eigenen Alltag herauszukommen. Der Weg nach Westen ist freilich versperrt, und so fährt jeder, der es sich leisten kann, in jene Landschaft, die noch am ehesten unserem Urlaubsideal nahekommt, nämlich ans Schwarze Meer. Neben den rumänischen Bädern Mamaia, Efo-rie und Mangalia hat Bulgarien Teile seiner Küste zu Ferienorten ausgebaut, die das Beste an östlichem Komfort bieten, aber alles im Maßstab, der Welt hinter dem Vorhang.

Der mit subtropischer, üppiger Vegetation bedeckte, in Buchten gegliederte Uferstreifen bei Varna erinnert ein wenig an die ligurischen Schönheiten oder an die Riviera oberhalb von Mentone. Die Ausläufer des Balkans reichen mit waldigen und felsigen Hängen bis ans Meer* und feiner weißer Sand säumt das Wasser. Die See ist tiefblau, die Luft mild, das Licht von südlicher Helligkeit, es gibt Kiefernwälder, malerische Küstenlinien, Strand, Kieswege, gewundene Felsenstiegen, eine breite, in Windungen weiter oben verlaufende Autostraße und unzählige Hotels. Schlendert man auf den gepflegten Promenaden durch die üppige südliche Parklandschaft, sieht den Strand, die den Hang erklimmenden Hotelanlagen mit Balkons und Terrassen, dann weiß man: Hier ist die Riviera der anderen Seite.

Der Vergleich mit den großen mondänen Orten des Westens ist zwar keineswegs aufrechtzuerhalten, denn es bestehen auch hier allzu verschiedene historische Voraussetzungen, die bei der Beurteilung ins Gewicht fallen: Vor sieben Jahren gab es außerhalb der Stadt Varna nur unberührte Natur, und Nessebar, das weiter im Süden liegende Badezentrum, war noch 195 8 eine Wüste. Was also hier an Hotels und Parkanlagen besteht, wurde in kurzer Frist hervorgebracht, eine langsame, organische Entwicklung gab es nicht. Und bei allen Unzulänglichkeiten, die im Vergleich mit ähnlichen Gebieten im Westen auftreten, ist die Leistung dieser Gründungstat nicht zu übersehen. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß etwa ein Balkonzimmer mit Waschraum und Duschnische in einem westlichen Hotel vom Bett bis zum Wasserhahn bessere Qualität aufweist als hier, aber das Aussehen des ganzen, ohne jede Erfahrung geschaffenen Unternehmens ist trotzdem beachtlich.

DAS PUBLIKUM BILDET DEN AUFFALLENDSTEN UNTERSCHIED im Vergleich zu westlichen Badegästen. Besonders an den Orten bei Varna, in „Drushba“, zu deutsch „Freundschaft“, und „Slatnite pjassazi“ oder „GoldStrand“. Hier wurden neben die Hotels noch eine Menge Erholungsheime für verschiedene Körperschaften errichtet, und so belagern viele überaus kollektiv aussehende Gruppen die Wege, Badegelegenheiten und Restaurants. Auch dem bulgarischen Militär — der russischen Armee sehr ähnlich gekleidet — kann man hier, im Erholungsschritt spazierend, begegnen. Man sieht polnische, tschechische, ungarische Familien und sehr viele Ostdeutsche. Was Italien anscheinend für den westdeutschen Touristen bedeutet, ist das Schwarze Meer für den Ostdeutschen. Jedes noch so versteckte Ausflugsziel wird von einer Gruppe eifriger Ostdeutscher „durchstöbert“. Sowenig diese Tatsache statistisch stimmen mag, so entsteht doch der subjektive Eindruck, daß an den Urlaubsorten der „anderen“ Hemisphäre der deutsche

Tourist dominiert, wenn auch nur der ostdeutsche.

Man begegnet mitunter Urlaubern aus dem Westen, aus der Bundesrepublik, aus Österreich, Schweden, Dänemark, die auf diese Weise einen Blick in das Leben „drüben“ tun. Allerdings, was man hier sieht, ist alles andere als das alltägliche Leben, sondern das Maximum dessen, was im Osten vom Traum sorgloser Ferien erfüllt werden kann.

NUR ZUM SCHLAFEN SIND DIE HOTELS DA, DENN zu den Mahlzeiten geht man in einige zentrale Restaurants; auch das Frühstück ist dort einzunehmen; es gibt nur eine einzige Ausnahme in Nessebar. Daß beim Essen, das übrigens vortrefflich zubereitet ist, ein entsprechender Massenbetrieb herrscht, ergibt sich daraus als Notwendigkeit. Kleinen Mängeln in den Zimmern — man findet etwa prinzipiell keine Duschvorhänge, die Matratzen sind niedrig und hart — stehen die Vorzüge der wunderbaren Lage aller Hotels gegenüber. Was man aber unkompensierbar vermißt, sind jene Wirkungen der Atmosphäre, die den Lido von Venedig oder die französische Riviera eben zu dem machen, was sie sind. Es fehlt das Hinterland, es fehlt die Nähe von erhalten gebliebenen Kulturzentren, das Gefühl der Geborgenheit in einer uns zur Atemluft gewordenen Zivilisation. Man mag, in einen westlichen Fauteuil zurückgelehnt, sagen, daß der Trubel an der Cote d'Azur allzusehr an den Nerven zehre und es auch sonst bei uns viel zuviel „Zivilisation“ gebe.

Im östlichen Sand liegend, wünscht man sich sehnlichst herbei, was uns im Westen oft stören mag. Hier erkennt man, daß auch die banalen Seiten des westlichen Lebens Zeichen der individuellen Freiheit sind. Ihr Fehlen bemerkt man im Osten nur mit Beklemmung, denn mit diesen Albernheiten und Banalitäten fehlt die Möglichkeit, sich selbst zu bestimmen, dies zu sein oder jenes, und auch einmal das zu tun, was aller Logik, allem Nutzen widerspricht.

VIER JAHRE, UND NICHT NUR HUNDERT KILOMETER liegen zwischen Drushba und Nessebar. Nicht viel Zeit, und doch ist ein deutlicher Wandel festzustellen. In Drushba sind die Hotels mitunter noch vom stalinistischen Stil beeinflußt, in Nessebar merkt man nichts mehr davon. Dort baute man modern, beinahe in italienischem Charakter, schwebende Dächer auf schmalen Betonstützen, gekurvte breite Treppen, die Erdanziehung scheint überwunden. Von einem Hochhaushotel, dem vierzehnstöckigen „Globus“ abgesehen, gibt-.es ein paar mittelhohe Bauten und viele im Wald verschwindende Hotelanlägen, die wie eine Einheit verschiedener Einzelhäuser wirken. Hier hat man architektonisch moderne, individualistische Gesichtspunkte erreicht und auch keine staatlichen Erholungsheime neben die Hotels gestellt. Die Landschaft ist allerdings von Varna verschieden, denn in Nessebar findet man nur Sand, Dünen und ebene Parks. Die Küste ähnelt dem Nordseestrand, nur die Farbe des Himmels und Meeres sind südlich blau. Slantschew brjag, „Sonnenstrand“, heißt dieser Teil. Hier hat man zwar die weniger abwechslungsreiche Natur, aber den westlicheren Charakter der Anlagen. Es gibt Bars und Tanzlokale, ein Sommerkino, eine Freilichtbühne und Restaurants mit Seeterrasse. ,

Und trotzdem ist dieses Urlaubsleben anders als bei uns, anders, weil der Alltag, der diesen Ferientagen vorangeht, verschieden von unserem .grauen Alltag“ ist, und weil die eineinhalbtausend Kilometer, die man seit den westlichen Grenzsteinen zurückgelegt hat, deutlich fühlbar sind.

DAS: URLAUBSLAND DER ANDEREN SEITE WILL BULGARIEN mit dieser in unglaublicher Eile eingerichteten östlichen „Riviera“ werden und dadurch seine schwierige Wirtschaftslage verbessern.

Außerdem versucht man, auch auf diese Weise zu westlicher Währung zu kommen. Die Propaganda, die für Varna und Nessebar im Westen gemacht wird, ist nicht gering. Zusammen mit westlichen Reisebüros werden Charterflugzeuge russischer Herkunft im Direktflug von Frankfurt und Wien nach Varna geführt, wobei die Pauschalpreise für 14 Tage, inklusive Flug, Aufenthalt und Verpflegung, von Wien aus 3250 bis 4550 Schilling betragen.

Als Einzeltourist allerdings zahlt man wesentlich mehr: 5 bis 8 Dollar (rund 125 bis 200 Schilling) Vollpension oder 3.50 bis 5 Dollar (rund 87.50 bis 125 Schilling) für eine Übernachtung. Man muß sich daran gewöhnen, als „Westlicher“ in Dollars zu rechnen, erfährt man doch die meisten Preise in dieser Währung und hat oft Taxis und sonstige Sonderleistungen in Westgeld auf Dollarbasis zu entlohnen. Es söH Weh dadurch frfniö'glich gemacht Werden, daß jemand mit schwarzgekauften, billigen Lewas bezahlt. Und diese Dollarpreise sind beträchtlich, etwa das Auto vom „Sonnenstrand“ bis zum nächsten Flugplatz, Fahrt 25 Minuten, 4 Dollar (rund 100 Schilling). Man zahlt für jede Kleinigkeit und erhält eine mit zwei Durchschlägen ausgestellte Rechnung, die zu unterschreiben ist.

Wer sich also die östlichen Urlaubsattraktionen ansehen will, fährt am günstigsten mit Pauschalreise, und das ist von „Balkantourist“ auch so beabsichtigt. Auf eigene Faust zu fahren oder zu fliegen, bedeutet oft ein abenteuerliches Unterfangen, denn Autoreparaturen sind ein Problem, und der Flug von Sofia nach Varna geht wohl meist direkt, kann aber auch plötzlich mit drei Zwischenlandungen erfolgen, und die alten, kleinen Maschinen, die sich kaum höher als 1000 Meter über den Boden erheben, in denen bei Schlechtwetter die frei im Passa^ier-raum untergebrachten Koffer kollern, das bedrohliche Herumschaukeln über den Schluchten des Balkans, die Landung auf den als Flugplätze bezeichneten Wiesen, das alles ist nichts für westliche Nerven. In Varna selbst allerdings gibt es die für die russischen Tljuschins nötige Betonfläche, und von dort kommt man mit dem Auto in vierzig Minuten nach Drushba und in zwei Stunden nach Nessebar.

NIEMAND KANN DIE NÄHE RUSSLANDS UND DIE GEGENWART DER ÖSTLICHEN WELT ÜBERSEHEN. Auch am Schwarzen Meer geht die. Sonne jeden Morgen inmitten herrlicher Farbfontänen auf, und in der Nacht hängt der Mond wie eine Orange über dem dunklen, nur das goldene Licht reflektierenden Wasser. Doch gerade diese überall auf der Erde gleichbleibende Lyrik läßt die Verschiedenheit der realen menschlichen Lebensformen von West und Ost um so tragischer empfinden. Im Geistigen kann man mit aufgeschlossenen Intellektuellen von „drüben“ vielleicht manche gemeinsamen Gedanken finden, aber im praktischen Bereich ist da* Leben verschieden. Auch auf den Promenaden am Schwarzen Meer.

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