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Aufgang des Abendlandes

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In Schmerzen, Zweifel und Zweideutigkeiten erlebt heute Österreich seine Wiedergeburt; noch hat sich das Chaos in den Herzen und Geistern nicht zu einem Kosmos geläutert, noch hat sich das Ungefüge widereinander geballter Mächte nicht zum schönen Gefüge einer wahren Ordnung des Friedens gewandelt. Noch ist Europa, das Abendland, nicht wiedergeboren; darüber aber kann kein Zweifel bestehen: nur im großen Zusammenklang einer abendländischen Einheit kann Österreich wirklich existieren, leben — es lebt aus der Fülle dieser Einheit, weil es nur für sie schaffend seinem Leben Sinn und letzten Inhalt geben kann. Vielleicht ist es gerade in dieser Stunde, in der wir noch so tief hineingehangen sind in die Wirrnisse gärender Spannungen, in die Unrast eines neuen Werdens, nicht ohne Sinn, wenn wir uns der europäischen Situation erinnern, in der zum ersten Male — vor 950 Jahren — der Name Österreich aufklingt. Und da ist es nun sehr bezeichnend: wir können damals im eigentlichen Sinne weder von „Österreich“ noch von „Europa“ als einer lebendigen Wirklichkeit sprechen!

Nichts deutete darauf hin, daß aus der Vielfalt von Herrschaften zwischen böhmischem Kessel, Donau, ungarischer Tiefebene und Alpenraum einst jene Schicksalsgemeinschaft erwachsen würde, welche als Casa d'Austria, als Maison d'Autriche, zuletzt als „die Monarchie“ in wechselvoller Wirkung von Schicksal und Schuld, von Größe und Begnadung berufen sein sollte, das Lebensgesetz des Abendlandes durch ein Leben in und aus der Fülle mannigfaltigster Spannungen von Völkern und Nationen, von Rassen und Religionen mitzugestalten. Damals bestand keine oder doch nur sehr wenig Hoffnung auf den Aufbau einer abendländischen Einheit, also jenes großen europäischen Zusammenhanges, aus dem allein „Österreich“ sinnvoll verstanden werden kann. Unsere Betrachtung des Mittelalters wird immer noch durch falsche romantisierende Simplifikationen, unzulässige Vereinfachungen schwieriger und oft sehr verwickelter Tatbestände bestimmt; so leben im Bewußtsein und Unterbewußtsein vieler sehr massive Vorstellungen von einer „Einheit“ der mittelalterlichen europäischen Welt, gegeben durch „Kirche“, „Reich“, germanisch-romanische Völkerwelt und eine gewisse gemeinsame christlich-antikische Humanität. Die Gemeinsamkeit des Glaubens, der latei-• nischen Sprache des Kultes und der Kultur, gewisser wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Erscheinungen, wie zum Beispiel des Rittertums, dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Zeit des Frühmittelalters eine Epoche gewaltigen Ringens gegensätzlicher Mächte war; gerade die Betrachtung der „europäischen Zustände“ im neunten und zehnten Jahrhundert kann den Menschen der Gegenwart hier manches lehren: aus einem Kampf nahezu aller gegen alle wird Europa, wird die lebendige, spannungsvolle Einheit des Abendlandes geboren!

Der magische Glanz, der das Reich Karls des Großen umwob und der immerhin ausreichte, seinen Begründer zum heiligen Schirmherrn des staufischen Reichs, des allerchristlichsten Königs von Frankreich und auch noch Napoleons werden zu lassen, darf den Blick nicht trüben: die Zusammenspannung der Völker und Stämme Europas im karolinsjisihen Imperium entsprach noch ebensowenig der geschichtlichen Stunde wie die sogenannte „karolingische Renaissance“ mit ihrer Mischung von Antikischem, Sakral-Germanischem und Frühmittelalterlich-Christlichem! Und doch: im Karolingischen klingen bereits machtvoll alle Töne und Motive an, welche später das Abendland gestalten werden — vorerst aber war es noch nicht so weit. Das Reich Karls zerfällt in drei Großräume: Italien, Frankreich und Deutschland, die in den folgenden 100 bis 150 Jahren oft verzweifelt nach außen und innen um eine eigene Lebensform ringen! Zumal für Italien und Frankreich bedeuten die Jahre 814 bis 950 eine ununterbrochene Folge von Unheil, von äußeren und inneren Bedrängnissen — das 10. Jahrhundert wird ihr „dunkles“, ihr finster-barbarisches Jahrhundert genannt werden ...

Werfen wir zunächst einen Blick auf Italien: dies Land versinkt in Anarchie im Kampf einheimischer Adelscliquen und wird zudem aufs schwerste bedrängt durch die Einfälle der Sarazenen und Ungarn. Der Tod des Papstes Johann VIII. im Jahre 882, der mit vieler Energie gegen die Sarazenen gekämpft hatte, bildet den Auftakt für Jahrzehnte der Barbarei. Die Umstände dieses Todes sind charakteristisch für die Verhältnisse im Italien des neunten und zehnten Jahrhunderts; ein Verwandter reicht ihm den Gifttrunk und zertrümmert ihm mit einem Hammer den Schädel, als er sieht, daß das Gift nicht schnell genug wirkt! Das Papsttum, bislang noch ein Hort der Ordnung, versinkt in den Parteikämpfen der römischen Aristokratie, Intrige und Gewalttat, Aufstand und Mord herrschen in Rom. Im Anfang des zehnten Jahrhunderts beherrscht ein Gewaltweib, Theodora mit ihren Töchtern, den päpstlichen Thron. Während die feudalen Herren sich um Stadt und Stadt, Burg und Burg balgen, überschwemmen die äußeren Feinde raubend und plündernd das unglückliche Land. Vom Meer her sind es die Sarazenen — sie haben sich zudem einen Stützpunkt in der Provence ausgebaut, den erst Otto der Große 972 erobern wird —, ihre Scharen dringen über Oberitalien und die Schweiz bis St. Gallen vor. Vom Land her sind es die Ungarn, die von 899 bis zur_ Mitte des 10. Jahrhunderts besonders Oberitalien brandschatzend verwüsten, in der Mitte des zehnten Jahrhunderts kommen dann die Deutschen, 951 steht Otto I. in der Lombardei; es ist wahr, sie bauen ein neues Reich auf, beginnen eine Reform der Verhältnisse in Rom durch Einsetzung neuer Päpste; auch sie kommen aber als Fremdlinge, als Träger fremder Gewalt und Gewalttat ins Land! Wir hören die ergreifende Klage des Mönches Benedikt von Monte Soracte über den Fall Roms: in barbarisch stammelnder, verwilderter Sprache gibt er Kunde vom Schicksal dieser einstmals hochberühmten Stadt, welche nun, ausgeplündert vom „Sachsenkönig“ (Otto L), gefangen, geschunden am Boden liegt...

Renovatio imperii Romanorum — Erneuerung des heiligen Reiches der Römer — hatte sich dies nicht der kühnste Denker unter den Ottonen, Otto III., als Lebensprogramm vorgenommen, wollte er nicht „unsere königliche Stadt“ wieder zur Herrin eines' Christus unterworfenen Erdkreises machen? Der Jüngling, der dies nicht nur erträumte, sondern mit einer echt mittelalterlichen Verbindung von zähem, stolzem Eigenwillen, Bist, Klugheit und scheinbar phantastischem Denken und Glauben plante, muß indessen — 1001 — vor einem Aufstand seiner geliebten Römer aus der Ewigen Stadt fliehen; kurz darnach erlischt das Leben des Zweiundzwanzigjährigen. Italien scheint wieder zu versinken in Fehde und Raub ..

Ein ähnliches Schicksal hat Frankreich — der Westen des karolingischen Großreichs — im neunten und zehnten Jährenden: das Königreich zerfällt in 12 bis 15 Fürstentümer, praktisch aber ist der Herrschaftsbereich jedes Barons, jedes Ritters ein „Staat“ für sich. Diese Barone liegen ständig in Fehde miteinander, sie brennen die Felder, wüsten die Märkte und Städte und scheuen auch nicht zurück vor Gewalttaten gegen die Klöster und Kirchen. Dazu kommt die verzweifelte „außenpolitische“ Lage: vom Norden her bedrängen die Normannen das Land, aur ihren schnellen Schiffen fahren sie seine-auiwärts und plündern'Paris; 911 setzen sie sieh endgültig' in Frankreich fest, die Nor-mandie erhält ihren Namen. Vom Südosten kommen die Ungarn, sie dringen in Burgund ein und bis in die Champagne vor, im Süden und Südwesten stehen die Araber: diese haben längst schon das Mittelmeer für Handel und Verkehr gesperrt. Die ständigen Einfälle von außen und die innere Unsicherheit infolge der zahllosen Fehden bedingen den Verf all der Landwirtschaft. Nach Radul-fus Glaber, dem Geschichtsschreiber der Cluniazenserzeit,herrscht während derEpoche 970 bis 104O in 48 Jahren Hungersnot! Ohne Gnade führen die großen Herren ihre Kriege. Als 946 Otto I. und der französische Konig Ludwig auf französischem Boden einander befehden, plündern und verwüsten beide Heere die Orte, Flecken, Lande, welche sie durchziehen. Die Bauern leiden zudem noch schwer unter der Bedrückung durch den einheimischen Adel; 997 kommt es in der Normandie, 1008 in der Bretagne zu Bauernaufständen. Der moralische und kulturelle Tiefstand der Herrenschicht, der feudalen Welt, ist im weltlichen und geistlichen Lager gleich groß und Odo von Cluny wird gegen Geiz und Wollust, Habsucht und Gier der geistlichen und weltlichen Herren gleichermaßen kämpfen müssen. Vom Verfall der Klosterzucht geben uns unter anderen zeitgenössische Berichte aus dem süditaliemschen F-.rfa anschauliche Kunde.

Das Bäd Europas in dieser Zeit rundet sich, wenn wir Deutschland dazu-nehmen: denken wir hier an die schweren Kämpfe Ottos I. mit den weltlichen Feudalherren, welche “bekanntlich dazu führten, daß der König sich auf die geistlichen Fürsten zu stützen begann und so das vielberufene „ottonische System“ begründete, denken wir auch hier, an die Einfälle der Ungarn, welche erst seit 955 endgültig zurückgeworfen wurden, dann werden wir etwa begreifen, wie die Humanisten das „dunkle zehnte Jahrhundert“ verdammen, wie ferner bis in die Gegenwart sich die gelehrte Sage von einer allgemeinen Weltuntergangsangst um das Jahr 1000 halten konnte. Ohne den tiefdunklen Hintergrund läßt sieb aber der große neue Auftrieb, der allenthalben bereits im 10. Jahrhundert einsetzt, nicht begreifen.

In Frankreich beginnt mit den Konzilen von Charroux (989) und Narbonne (990) jene große innere Friedensbewegung, welche 1040 zum ersten „Gottesfrieden“ führt — ein Versuch der Kirche, die Fehdetätigkeit der adeligen Herren räum- und zeitmäßig einzuschränken, der bald, von Erfolg gekrönt, im übrigen Europa Nachahmung findet. In Frankreich wird schließlich bereits 910 Cluny gegründet, das Kloster im burgundischen Grenzraum, das einer der größten und bedeutungsvollsten Reformbewegungen in Kirche und Welt des Mittelalters den Namen geben wird! In Deutschland ist es das Werk der ottonischen Kaiser und ihrer Bischöfe, jener stolzen, .weltfrohen Herren, welche die Kultur begründen, die man „ottonische Renaissance genannt hat; in den geistlichen Schulen der Reichenau, in Regensburg. Trier, Köln, Fulda wächst die Kunst heran, die, zumal in der Buchmalerei, Werke höchsten, einmaligen Ranges schafft. In der neuen Spiritualität, in der Geistigkeit dieser Werke wird zum erstenmal ganz deutlich Europas geistiges Antlitz sichtbar: die großen Mächte des Urgrunds und der Vergangenheit — die Leidenschaft und Kraft des Germanisch-voikhafeen, die Formenwelt des Antikischen (Byzanz und den Osten in sich bergend) und die Inbrunst des Glaubens sind hier zum erstenmal eine gültige Verbindung eingegangen!

Gerade heute, in einer Zeit, welche ihre Grundlagen prüfend neu erleben muß, um sie wirklich neu gewinnen zu können, müssen wir uns fernhalten von billigen Harmonisierungsversuchen: die Begegnung der drei großen Mächte Antike, Volkstum und Christentum, diese Begegnung, in der Europa zum Abendland wurde, war und ist keine harmlose Begebenheit. Sie stellte sich damals, im zehnten Jahrhundert, dem Menschen als schwerste Aufgabe, welche nur durch die Anspannung aller Kräfte zur segenbnngen-den Gabe werden konnte, sie ist, in gewandelter Form, jeder europäischen Generation neu aufgegeben!

Wer etwas vom tragischen Geheimnis des Abendlandes erleben will, der möge jene Jahrhunderte studieren; mitten aus Wirrnis und Gewalttat, Krieg und Fehde wächst langsam aber stetig eine neue Welt empor: kurz nach 1000 nach Christus beginnt sich Frankreich mit einem schimmernden Kleide hellstrahlender Kirchen zu gewanden, wie es in einer zeitgenössischen Quelle heißt. Bereits im letzten Drittel des zehnten Jahrhunderts werden die Grundlagen für fast alle großen deutschen Sakralbauten gelegt, zum erstenmal erheben sich die glanzvollen rheinischen Dome. Die fremden Eindringlinge — Normannen, Ungarn, Sarazenen — sind zurückgeworfen und gliedern sich bis auf die letzteren schnell ein in die neuwerdende abendländische Gemeinschaft. Aber auch das französische, deutsche und italienische Volk erwacht erst jetzt zu Eigenleben, aufsteigend aus dem Wandel der karolingischen Erbmasse. Noch ist alles im Fluß, ein großes Wachsen und Werden. In diesem Zusammenhang klingt zum erstenmal der Name Österreich auf.

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