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Aufschwung der Phantasie

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Es begann mit Ravel und endete mit Hindeinith. Dazwischen aber — o weh: dem Rezensenten schwirrt der Kopf. Die Ur- und Erstaufführungen der 11. Internationalen Ferienkurse für Neue Musik in Darmstadt sind nicht zu überblicken, die weisen Worte, die dort gesprochen wurden, noch viel weniger. Aber — und das ist das Erfreuliche —: alles, was geschah, förderte das Handwerk, die Solidität. Und das allzu Extreme schien fast ins Spielerische abgewandelt. Am Wege in die serielle oder elektronische Zukunft blühen die Veilchen einer weniger beschwerten Phantasie. Selbst die Todernsten, die Akademischen, die „Jünger“ stellen Wegzeichen auf, über die sich reden läßt. In den letzten Jahren entstand gelegentlich der Eindruck, daß sich die Neue Musik in nebulose Gefilde kosmischer Konstellationen zu verlieren drohte. Was jetzt in Darmstadt geschah, ist bis zu einem gewissen Grade nachprüfbar, bis zu einem gewissen Grade sogar erfreulich im Sinne des Wortes. Die ganze etwas unwirkliche Welt der Webern-Nachfolge, in der das komponierte Schweigen noch über den Ton dominiert, mit der Innenspannung musikalischer Affekte aufzufüllen: das scheint der Weg der „musica nova“ zu sein.

Ein Wort Arnold Schönbergs im Programmheft verwies auf Mozart. Das Verankern der neuen Klangwelt bei den großen Meistern schien ein sehr wesentliches Moment der diesjährigen Ferienkurse: es kam vor allem in Kfeneks Vorlesung über „Beethovens späte Streichquartette“ zum Ausdruck, aber auch in Alois Häbas Kurs über „Mikrotonale Kompositions- und Interpretationsprobleme“ — eine umständliche Betitelung, hinter der sich die Aufforderung zur empirischen Durchdringung des Tonraumes verbarg. Auch Adorno, der in freier Rede eine brillante Vorlesung über „Schönbergs Kontrapunkt“ hielt, betonte seine „reaktionäre Gesinnung“: es sei zum Beispiel keine Kunst, in einer Komposition die vielgerühmte Einheit herzustellen, wenn nicht die Gegenkräfte der Mannigfaltigkeit wirksam wären; Schönberg habe sich niemals von der Einheit umfangen lassen, die in der Gleichwertigkeit der Simul-tanstimmen beschlossen sei; sondern eine solche Einheit erst kompositorisch hergestellt. Auf der gleichen Ebene — der einer Erkenntnis des Handwerklichen in der Neuen Musik als Brücke zu einer praktikablen Aesthetik — waren die Seminare Kfeneks für Komposition und Rufers für „Themen- und Melodiebildung bei Sehönberg und Webern“.

Und inmitten dieser wichtigen und intensiven Arbeit ragte die sozusagen avantgardistische Pyramide der Konzerte auf. Die Spitze hielt Karlheinz Stockhausen — er ist dafür bekannt! Sein elektronischer „Gesang der Jünglinge“ bezieht die mit sich selbst überlagerte, chorisch verstärkte, zur Unkenntlichkeit veränderte oder überdeutlich herausgehobene Stimme eines zwölfjährigen Knaben ein. Synthetischer und Naturton sind nicht mehr zu trennen, der Grad der Wortdeutlichkeit wird zum Formprinzip: das ist Neuland. Ernst Kfeneks „Pfingstoratorium“ für Singstimmen und elektronische Klänge wirkte dagegen nahezu traditionell in der kompositorischen Struktur und illustrativ in der Zeichnung. Die Diskussion über die „kompositorischen Möglichkeiten der elektronischen Musik“ streifte eine ganze Reihe mehr oder minder allgemeiner Probleme, nur nicht das Thema.

An den elektronischen Höhepunkt avantgardistischer Standorte wurde man sorgsam herangeführt: das ist so Darmstädter Art. Ravel und Orff im Landestheater: das war eine reichlich t irgsame Einstimmung; aber akademi6ch-zwölftönige „Bagatellen“ Adornos, eine teils zerklüftete, tei motorisch-ostinate Klavier-Passacaglia Stefan Wölpes, die vom Wortgehalt und dem geistigen Ueberbau Kafkascher Texte deutlich inspirierte „Expression K“ von Hermann Heiß und eine etwas redselige Klaviersonate Kfeneks zogen die ersten Kreise der auf der Darmstädter Ludwigshqhe zu errichtenden Welt. In dem Konzert mit dem Sinfonie-Orchester des Hessischen Rundfunks unter Otto Matzerath war Arnold Schönbergs Violinkonzert Maßstab und Richtung. Man hörte das Werk zum ersten Male ohne jene 14 Druckfehler, die Rudolf Kolisch — der berufene und souveräne Sollst — kürzlich herausgefunden hatte.

In den Pausen war viel von „Integration“ die Rede: welche Teile in aller Welt sollen sich denn da zum Ganzen bilden? Manche der Jungen denken immer noch in philosophisch überfrachteten Kategorien und erfinden dabei wenig. Diesen Grüblern wird der amüsante Vortrag Stefan Wölpes über „Neue — und nicht ganz so neue — Musik in Amerika“ recht — spanisch vorgekommen sein: dort gibt es die punktuelle Klangwelt auch, aber sie ist nicht Ausdruck der letzten Dinge. Denn — also sprach Wölpe —: „Wie soll die Ordnung eine Leere bezwingen, in der es gar nichts zu ordnen gibt

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