6576291-1950_45_11.jpg
Digital In Arbeit

Aus der Frühzeit der französischen Musik

Werbung
Werbung
Werbung

Diese Summa der musikalischen Wissenschaft enthält die vollständige Ausgabe des berühmten Manuskripts H 196 der Fakultät von Montpellier, das schon teilweise von deutschen Musikwissenschaftlern des XIX. Jahrhunderts und zu Beginn des XX. Jahrhunderts unter anderem von Wolf, Ludwig, Besseler, Handschin, Gennrich und Ficker bearbeitet wurde. Das Werk besteht aus vier Quartbänden: Der erste zeigt die Photokopie des gesamten Manuskripts, das zwar nicht das vollständigste dieser Art ist, aber dennoch eines der bedeutendsten Zeugnisse der französischen Polyphonie des XIII. Jahrhunderts darstellt. Das „Livre de chansons anciennes et romant avec levrs nottes de mvsicqve“ wurde auf 800 Seiten Büttenpapier Müller in einer beschränkten Auflage von 200 Exemplaren gedruckt. Die Bände 2 und 3 enthalten die Musik der 345 polyphonen Stücke zu 2, 3 und 4 Stimmen in moderner Notenschrift gesetzt, mit allen Texten und technischen Angaben versehen, die die Transposition, den Rhythmus, die Gesangs- und Instrumentalinterpretation betreffen und die den persönlichen, wissenschaftlichen Beitrag von Mme Rokseth bilden.

Im vierten Band findet man zum Abschluß eine groß angelegte Studie über die historischen, technischen und musikalischen Aspekte der französischen Polyphonie im Jahrhundert Perotins des Großen in ihren drei hauptsächlichsten Gattungen, dem Conduit, dem Organum und der Motette.

Es würde über den Rahmen dieser Rezension hinausgehen, wenn wir die wissenschaftliche Einmaligkeit dieses Werks näher besprechen wollten, das wahrscheinlich als ein endgültiges Forschungsergebnis und als die Synthese der Arbeiten mehrerer Generationen französischer und europäischer Musikwissenschaftler zu werten ist.

Wir wollen nur die Worte ihres Freundes und Mitarbeiters Wladimir Fedorow wiederholen, der schrieb, daß es Mme Rokseth vollkommen gelungen ist, „den musikalischen Text in authentischer Vollständigkeit darzustellen, dessen ganzen technischen, stilistischen und ästhetischen Gehalt durch eine ungemein gründliche und sachkundige Analyse herauszuheben, um dann mit Hilfe eines lückenlosen historischen Apparats den musikalischen Text in seiner Klangfülle, seinem eigenen Rahmen, seiner sozialen Umgebung und seiner Zeit zu neuem Leben zu erwecken.“

„Den Text in seiner Klangfülle zu neuem Leben zu erwecken“, ist hier kein nichtssagendes Wort: Dank der „Editions de l'Oiseau-Lyre“ und dem Ensemble, das sich unter der Leitung von W. Fedorow in der Interpretation mittelalterlicher Polyphonie spezialisiert hatte, war es Mme Rokseth vor ihrem Tode (Ende 1948) möglich, selbst die Ausführung und die Tonaufnahme zu überwachen.

Die Musik Perotins des Großen, die schon teilweise durch J. Chailley und Guillaume de Van auf Schallplatten aufgenommen wurde, wird hier dem Musikwissenschaftler und dem Musikliebhaber des zwanzigsten Jahrhunderts in nie erreichter technischer und musikalischer Vollkommenheit zu Gehör gebracht. Nicht nur das, diese Musik beweist eine Aktualität, eine unmittelbare Wirksamkeit, die besonders den Hörer des „Alleluja Viderunt“ von 1198—1200 zutiefst erschüttert.

P6rotin nimmt zwar durch seine große historische Bedeutung den ersten Platz in diesen Schallplattenaufnahmen ein, doch auch andere Autoren, wie Pierre de La Croix und Adam de la Halle zum Beispiel wurden nidit vergessen, ebensowenig wie viele anonyme Komponisten Pariser, pikardischen oder englischen Ursprungs, deren Werke zusammen mit denen Perotins das Ende des XII. und das erste Drittel des XIII. Jahrhunderts in Frankreich zu einem der Höhepunkte der europäischen Musik überhaupt machten.

Dieser Zeitraum war von großartiger Fruchtbarkeit, erfüllt von fieberhaftem, leidenschaftlichem Suchergeist, wo die musikalischen Formen sich festigen, die Rhythmen im Dreivierteltakt und zaghaft auch in Zweivierteltakt sich zu entfalten beginnen, wo die Tonarten Eigenleben gewinnen und sich langsam von den gregorianischen „Moden“ und deji traditionsbedingten Qu&rt- und Quintintervallen loslösen, wo der anfängliche Kontrapunkt „punetus-contra-punetum“, der ganz von der zwangsläufigen „Teneur“ abhängt, sich langsam vpn seiner Vertikalität befreit und schon die ungeheuren Möglichkeiten der für die Polyphonie des XV. und XVI. Jahrhunderts so charakteristischen Horizontalität erblicken läßt.

Diese ganze Entwicklung, die zur „Ars Nova“ führen sollte, wird in dieser Schallplattenserie meisterhaft angedeutet, doch auch ihre technische Vollkommenheit wurde aufs schönste anerkannt, da sie mit einem der großen Schallplattenpreise 1950 der Academie Charles Gros ausgezeichnet wurde.

Das ist nicht nur das Verdienst der Interpreten, sondern ebensosehr das Mme Rokseths: Ihre persönliche Gelehrsamkeit, gemeinsam mit der modernen Aufnahmetechnik haben ihr ein prachtvolles „musikalisches Grabmal“ errichtet, in dem ihr Andenken weiterleben wird. Uns Hörer trägt diese Musik acht Jahrhunderte zurück in jene Zeit, da an N6tre-Dame de Paris gerade gebaut wurde und in ihr die ersten polyphonen Meisterwerke der französischen Musik erklangen.

Prof. Andre EspiaudelaMaestre

Frau Marie Grubbe. Roman von Jens Peter Jacobsei!, aus dem Dänischen übertragen von Helen U h 1 s c h m i d, österreichische Buchgemeinschaft, Wien.

Als vor mehr als achtzig Jahren dieser Roman des großen dänischen Dichters zum erstenmal erschien, erregte er berechtigtes Aufsehen, hatte doch Jens Peter Jacobsen durch die Gestaltung eines seltsamen Frauenschicksals aus dem 17. Jahrhundert mit seiner der Zeit weit vorauseilenden impressionistischen Sprache ein episches Meisterwerk geschaffen, das der Weltliteratur angehört. In farbigen Stimmungsbildern, deren Leuchten aus den Tiefen des Gemütes und den Abgründen der Seele dringt, erleben wir die Tragik einer Frau aus altem Adelsgeschlecht, die, zwischen Stolz und Selbstverachtung schwankend, kompromißlos den Weg ihres Herzens geht, um sich nach Wirrungen und Enttäuschungen von allen Bindungen zu lösen und der rückhaltslosen Liebe eines um viele Jahre jüngeren, einfältigen, aber mutigen Knechtes anzuvertrauen. Von der Welt ausgestoßen, sucht nun die Alternde als treue Gefährtin des Verachteten in Demut und Entsagung die Erfüllung, die ihr auf den Höhen des Lebens versagt blieb. Mit einerh erschütternden Bekenntnis zum Glauben an das Recht jedes Menschen auf sein eigenes Leben und seinen eigenen Tod schließt dieses Buch, das von Helen Uhl-schmid meisterhaft ins Deutsche übertragen und von Hans Thomas mit einer ungemein geschmackvollen Ausstattung versehen wurde.

Alfred Buttlar Moscon

Andere Stimmen, andere Stuben. Roman. Von Truman Capote. Paul-Zsolnay-Verzag, Wien.

Ein Großteil der österreichischen Verleger glaubt, heute Werke ausländischer Autoren bringen zu müssen. Dazu Ist nichts einzuwenden, solange es sich um anerkannte Werke der Weltliteratur handelt und die österreichischen Autoren, die etwas zu sagen haben, dabei gegenüber ihren Kollegen aus der Ubersee nicht zu kurz kommen. Wenn man uns aber, wie in dem vorliegenden Roman von Truman Capote, eine Geschichte vorsetzt, welche, nicht ungeschickt die Ihr zu Gebote stehenden Mittel verwendend, bemüht ist, den Zeiger der geltenden Moralskala auf Kosten des gesunden natürlichen Emfindens um 180 Grad zu verschieben, so kann man sich nur mit Befremden fragen, was den Verlag, dessen Publikationen ansonsten von beachtlichem Niveau sind, zur Herausgabe gerade dieses Buches bewogen hat. Dieses Buch einer widernatürlichen, krankhaften und morbiden Welt, vom Modergeruch faulender Giftpflanzen erfüllt, von perversen Menschen bevölkert, muß abstoßend wirken. Es sind Stimmen und Klänge, die in ihrer grotesken Verzerrtheit nichts mehr gemeinsam haben mit unserer Welt. Einer Dichtung, die ernst genommen sein und vor sich selber bestehen will, wird es nie einfallen, sich über Ethos und natürliches Empfinden hinwegzusetzen — nur um vielleicht originell zu wirken. Von der ganzen Originalität bleibt schließlich nichts über als ein bißchen fauler modriger Verwesungsgeruch. Carl E. Paar

Kärnten. Ein Bildwerk. Zusammengestellt von Prof. Dr. Gebhard Roßmanith. Geleitwort von Herbert Strutz. 1. Auflage. Verlag Carinthia, Klagenfurt, 1950. 167 Selten. Ganzleinen S 48.—, Halbleinen S 42.—.

Das Bundesland Kärnten, das im Oktober dieses Jahres mit tiefer und berechtigter Genugtuung die Dreißigjahrfeier der Volksabstimmung begangen hat, konzentriert in seinen Grenzen die Schönheit des donau-alpen-ländischen Raumes. Vom Urgestein der Tauern mit dem Großglockner reicht es zu den Karnischen Alpen und Lienzer Dolomiten und umschließt eine Fülle südlich milder Seen. Die Antike lebt hier in Funden auf, deren Reichtum sich von Jahr zu Jahr mehr enthüllt. Seit zwölf Jahrhunderten bestimmt der Norden die Geschicke des Landes, seit rund siebenhundert Jahren sind sie mit denen Österreichs verbunden. Romanik, Gotik, Renaissance und Bardck erscheinen hier mit Werken von hoher und zum Teil einmaliger Bedeutung.

Dieses Land erscheint mir wie einer, der sich fest an die Mauer des Nordens lehnt, während sein Antlitz nach Süden gerichtet ist. Seine wunderbare Vielheit sinnfällig zu machen, ist die Aufgabe des großen Bildwerks „Kärnten“, das uns vorliegt. Professor Roßmanith hat die entscheidend wichtige Aufgabe, das Bildermaterial auszuwählen und zusammenzustellen, ausgezeichnet erfüllt. Das Geleitwort von Herbert Strutz, das auf wenigen Seiten viel Wesentliches sagt, wird auch in englischer, französischer und italienischer Übertragung wiedergegeben. Die Lichtbilder zeigen die Landschaft der Hochalpen, der Seen und Siedlungen, die bezeichnenden Werke vielhundertjähriger Kunstentfaltung und die Typen der Menschen.

Dr. Friedrich W a 11 i s c h

Die Erzählungen. Von Hugo von Hofmannsthal. Gesammelte Werke in zwölf Einzelausgaben. Herausgegeben von Herbert Steiner. Bermann-Fischer-Verlag. 377 Seiten.

Vielleicht wird man einmal von Hofmannsthals Werken seiner gedankenreichen und gewichtlosen, farbig-transparenten Prosa den höchsten Rang zuerkennen. Seine in früheren Ausgaben, in Zeitschriften und Einzeldrucken verstreuten Erzählungen, die im vorliegenden Band gesammelt und textlich revidiert wurden, bergen einen kaum vorstellbaren, im eigentlichen Sinn des Wortes „dichterischen“ Reichtum. Die dem Romanfragment „Andreas oder die Vereinigten“ beigefügten Entwürfe und Notizen gewähren einen Blick in die Werkstatt des Dichters und demonstrieren, wie aus dem höchst Komplizierten, Vielschichtigen und Gedanklichen schließlich, als Resultat immer stärkerer Verdichtung, die ganz einfache Handlung und die plastischen, fast naiv anmutenden Gestalten wurden. Für angehende Dichter und Schriftsteller könnte das genaue Studium dieses Prozesses von größtem Nutzen sein. Der demnächst im Rahmen der Gesamtausgabe erscheinende Band „Prosa I“ beinhaltet im wesentlichen die in dem Buch „Loris“ gesammelten Essays, ergänzt durch den „Versuch über Victor Hugo“, eine gekürzte Fassung von Hofmannsthals Habilitationsschrift.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung