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AUSFAHRT

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Ein leichter Wind weht seit dem Morgen von den violetten Inselgebirgen jenseits des Meeres. Die Stadt liegt an den glühenden Grund des Sonnenverlieses gefesselt, die Gassen sind leergefegt vom Feueratem des Zentralgestirnes. Gespenstisch hallen meine Schritte aus der geisterhaften Leere der Gewölbebogen, flüchten über weißgekalkte Hauswände und erschrecken die lemurenhaften Eidechsen auf den patinierten Ziegeldächern. Alles Leben liegt irgendwo hinter morschem Holzgitter und schlaffen Vorhangstoffen in träger Verbannung. Eine traurige Stille brütet vor dem mohammedanischen Gebetshaus. Wie ein stummer Schrei stößt der klagende Epitaph des geköpften Minaretts gegen den Himmel. In solchen Augenblicken besitzt man den Schlüssel zur Seele dieser Stadt.

Kaskaden von ausgetretenen Steintreppen stürzen wie tosende Frühlingsbäche von der polyogonalen Festnug herab und strömen auf ihrem Weg in die Tiefe mit marmornen Fliesen über arm-breite, kulissenartige Plätze, vorbei an schweigenden Alabasterbrunnen und rosenwolkigem Gesträuch. Manchmal durchsticht eine kühne Gassensonde den Isthmus der Häuser und öffnet einen schmalen Kanal durch das trostbedürftige Labyrinth der Wohnkavernen. In solchem Ausschnitt glänzt dann das Meer wie ein senkrechter Bruchstrich — ein tintenblauer Sehnsuchtsextrakt in einer Mörteleprouvette. Gerahmt von perforierten Ziegelrändern, lächelt ein zauberhaftes Orbis terrarum: siestaträumende Küste, schillernde, auf der Wasserfläche dahingegossene Kalkspiegelung mattgrauer Karstfelsen, türkisfarbige Blumenbuchten unter dem Samthauch der Wellen. Linauslöschbar sinkt das ferne Knattern der Außenbordmotoren langsam ins Gedächtnis, der Anblick jener filigranen Ketten kleiner Geleitboote im Kielwasser breitbordiger Segelkutter — schwimmende Seerosen auf dem azurbetauten Basaltblock des Meeres, umsponnen vom rieselnden Schleier der Möwenschwärme. Unter der Regentschaft von Stille, Hitze und Sonne reift die Herrlichkeit des Gri-Gri, die hohe Zeit des Sardellenfischfangs.

Endlich der Hafen: Welch eine atemberaubende, von ungezählten Sehnsüchten bebende Welt. An der steinernen Mole die schaukelnden, wimpelgeschmückten Lanzetten der Masten, darunter, Flanke an Flanke reibend, die Kavallerie des Meeres — erwartungsvoll tänzelnde Boote, scheuernde, polternde Barken, eine Meute unruhiger Tiere, die an den Trensen ihrer Ankerketten reißt. Bordwände, deren leuchtende, auf dem Wasser schwimmende Farben die Kutter mit schillernden Aureolen umschließen. Unförmige Benzinlampengehäuse, auf den Bug der Nachtfangboote montiert, tauchen wie furchterregende Gorgo-nenhäupter aus dem Hafenbecken. Über dem Kai perlt das Wellenspiel des ewigen Hafenalltags: Matrosen, Fischereiagenten, Wiegemeister, Chauffeure, Müßiggänger — ein abenteuerlicher Strom, der alle Küstenstädte der Erde verbindet. Unter den dumpfen Lautenschlägen der Hämmer verschließen endlose Meter feuchter Sackleinwand die Kistenränder, in denen unter schneeigen Salzlagen die Früchte de| giasigen-Wellen kühlem: • Gariades, Marida — buntflossige. gleitende Körper, frische, fett--leibige Aaäfische, die'hi der letzten tfacht -exstin die Hummerreusen gingen.

Andreas, mein Freund, klettert mit seinen Gehilfen schon zwischen den vertäuten Trabakeln umher. Wie Jason und seine Helden rüsten sie unter den schweren, hohen Segeln, in denen die Winde in seligem Ermatten ruhen, zur argonautischen Meerfahrt. Jedes Schiff an der Mole ist eine „Kolchis“ heute, und wie jeden Tag seit Anbeginn, wird für sie das Goldene Vlies der Schuppensegen des Meeres sein. Seile rinnen wie flüchtige Lebensstunden durch ihre rissigen Hände, Netze schleifen gleich Brautsohleppen über die Hafenmauer.

Ein Handgriff leitet den anderen ein: neue Reusen kommen ins Boot, Soherbretter werden an Grundnetze gehakt, Drahtleinen um Winschentrommeln gelegt, Fischkörbe auf dem Verdeck festgebunden. Auch auf den Proviant wird nicht vergessen — Tin, Hausbrot, Ouzo, Quellwasser und eine große Korbflasche Rezina fliegen nacheinander über die Reling.

17 Uhr, Kapitän Andreas kommt endgültig an Bord. Ein kurzer Ruf an die Zurückbleibenden: Kalispera — wir laufen aus.

Der Motor beginnt mit gleichmäßigem Herzschlag. Wir legen von der Mole ab. Siedender Schaum kocht über der Schraube. Die Schleppleine wird ausgeworfen. Wie ein Katarakt rauschender Seide bäumt sich die Mähne der strahlenden Bugwelle auf. Bald ist der Kai nur noch ein unruhiger Farbwirbel unter der Piratenkulisse der Stadt.

Wir laufen gegen die Abendbrise, die, vom Süden kommend, unsere heißen Gesichter kühlt. Bis zur Landspitze im Westen liegen wir noch unter dem Winde. Kipoupolis präsentiert sich als ausgebrannter, schneeweißer Steinhaufen. In Kalamitza baden einige nackte Kinder am Strand. In langen Sätzen hastet ein Rudel Delphine vorbei, das sicherste Vorzeichen für schlechtes Wetter.

Das Kap ist umrundet. Das Meer wird azurblaue Ewigkeit, mit einer hellgrünen Linie unter den in der Sonne funkelnden Wel-lenkämmen. Perlmutterne Schleier färben die Tiefen des Strimo-nikos, und verschließen keusch wie ein Vorhang die Höhle des amphipolisohen Löwen.

Wir halten auf die Landzunge zu, von der im äußersten Süden der Gipfel des heiligen Athos aus dem thrakischen Pelagos steigt. Unser Bug weist auf eine steingewordene Sage: Als Poseidon hier einst seinen Dreizack weglegte, verwandelte er sich in die dreifingerige Halbinsel Chalkidike. Die Beiboote werden abgehängt. Doch viele von ihnen stoßen noch weiter hinaus in die Unendlichkeit der Ägäis, umrunden das Kap Burun und senken ihre Netze im Schatten des Götterberges Olymp in den Ther-maischen Golf.

Limnos hebt seine Bergzinnen aus den Fluten. Immer mehr beginnt der Athos das Blickfeld im Süden zu beherrschen. Terrassenförmig steigen seine Marmorfelsen in königlicher Erhabenheit aus dem Meer. Bald sind die mächtigen Komplexe der Klöster, umschlungen vom Rankwerk der Eremitagen und Mönchsweiler, mit dem freien Auge ausnehmbar — Watopedi, Lawras, Iwiron —, strahlende Gottesfestung über heiliger Küste. Unmittelbar darauf folgt das Finale — Kap Nimfeon: gischtum-sprühter, flottenmordender Felsen. Die letzte Schranke ist gefallen zur Grenzenlosigkeit der Horizonte.

Wir stehen auf der Höhe von Simonos-Petra. westlich des Agion Oros — der Fangplatz ist erreicht, und unsere Arbeit beginnt. Im Angesicht der Mauern Simon Petrus' schrumpfen die Jahrtausende zu einem flüchtigen Ereignis. Das Netz sinkt in die Tiefe. Wie der offene Rachen eines Raubfisches schwimmt es unter der Wasseroberfläche dahin. Im Fluß der Stunden sind wir bald nur noch ein rhythmisches Partikel im zeitlosen Rezitativ des Meeres.

Wenn das Netz aufgezogen wird, schwebt es über dem Wasser wie eine seltsame Stachelfrucht silberner Leiber. Schnell flitzen noch ein paar Fische aus den Maschen: Sternschnuppen, Meteoriten verborgener Wünsche. Begraben im blauweißen Schaum der Wogen, liegt es wie die Sichel eines verzauberten Mondes. Lose Schuppen glitzern wie äonenweite Galaxien, flimmernde Sternspiralen einer unermeßlichen Welt. Langsam entschwinden sie, versinken, werden blasser, gehen auf im dämmrigen Meeresall.

Immer wieder liegen auch tote Fische auf dem Verdeck: prachtvoll farbig, doch schon ohne Wärme, kalt wie das Mondlicht und unwirklich glänzend, jenseitig wie das nächtliche Meer.

Schweigendes Abendmahl auf rollenden Planken. Tiri, Brot, Aguri, Rezina. Die Flasche mit Ouzo wandert durch schwielige Hände.

Schwefelgelb gerandete Wolkenspeichen ziehen von Limnos herauf. Der Abend kommt wie ein großes Gebet. — O Herr, laß den Frieden dieser Stunde für immer in uns! •

Der äolische Atem umgibt uns mit trostreicher Sprache. Backbord, dem offenen Meer zu, öffnet sich ein bildgewordenes Epos: grünschimmernder Himmel, aufgerollt wie eine stürmende Prophetenfahne, wandernde Wassergebirge mit weißen Höhen und ^vergoldete rfy«In,,j, h(ril^o^et,|^ig,c«^pzend«l)l,w>«9d.licl«f Weite, bestäubt mit blaßrunkelnden Sonnenlichtern.

Das Boot wandert auf dem Rücken der Dünung, sinkend, steigend — Gleichnis für Liebe, Haß, Freude, Trauer, Geburt und Tod —, eine Wiege in Gottes Hand. Gläserne Berge heben es empor, weiß und durchsichtig hell, Wellenkämme aus Smaragd, gekrönt von schwebenden Möwendiademen, Körper wie schimmerndes Elfenbein im Abendlicht.

Wie ein Peitschenschlag kommt eine Bö aus dem Nichts und wandelt die Farbe des Wassers. Wir haben den Bug nach Osten abgedreht. Über Troja spannt eine Wetterwand ihr düsteres Segel.

Der Tag ist im Verbluten. Die Nacht birgt die Anker, und plötzlich sind wir selber der zappelnde Fang unter ihrem weltweiten Netz. Als letzter Blutstropfen hängt noch das Abendrot am Himmel, bis auch es im nachtblauen Meer versinkt.

Die Sternenräume öffnen sich wie eine Perlenschlucht. Unser Kielwasser ist eine feurige Straße geworden, unzählige Sonnen gebiert der funkelnde Sog. Irgendwo aus dem Zwielicht ruft Kassandra. Klagend rollt der Schrei eines Nebelhornes über die steil werdenden Wellentäler — der Postdampfer nach Daphni zieht vorüber.

Der Mond hängt wie eine hondgfarbene Ampel über Thasos. Im Norden, jenseits der Küstenberge, leuchtet die philippische Ebene wie ein silberner Spiegel der karibisohen Mysterien.

Die ersten blauflammigen Blitzadern sprühen ein feinästeli-ges Delta über das Meer. Der Wind steigt aus dem Samtbett seiner Träume und brüllt mit Stentorstimme. Es kommt eine Nacht, in der sie in den Häusern drüben am Land die salzbe-„„atmeten Fenster aufstoßen werden, um mit .Bangen hinauszu-Tslicken in die folternde Nacht.

In diesem Augenblick beginnen die Lichter.. des Athos in die Nacht zu stürzen. Der ganze Berg wird zu einem riesigen Leuchtturm, der mit Myriaden goldener Augen die Dunkelheit durchihellt.

Wie Fliehende eilen wir dem Mutterschoß der Küste entgegen.

Das Meer beginnt einen großen Gesang.

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