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BALLETTKULTUR UND LEBENSFORM

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Serge Lifar sagt, das Bibelwort paraphrasierend: „Im Anfang war der Tanz, und der Tanz war im Rhythmus, und der Rhythmus war Tanz. Am Beginn steht der Rhythmus ..Für einen so berühmten Tänzer und Choreographen mag es keine andere Kunstauffassung geben. Er versteht den Tanz als Urelement seines Wesens. Der Schauspieler, der Regisseur, der Dramatiker wird mit dem selben Recht formulieren: „Im Anfang war die Szene ...“ Jeder Künstler muß zur Bestätigung seiner schöpferischen Arbeit so ähnlich denken, weil er mit jeder Fiber seiner Kunst lebt.

Von dieser Gleichrangigkeit der Kunstgattungen ist in der Realität rein optisch nichts zu spüren. Das Ballett wurde — und wird in den meisten Fällen — als zweitrangiger Zweig der darstellenden Künste angesehen und auch so behandelt. Seine Pflege wird nicht nur vom praktischen Bühnenbetrieb, sondern auch von der Forschung und von der Kritik immer noch sträflich vernachlässigt. (Vergl. dazu auch „Die ungeliebte siebente Muse“ in der „Furche“ Nr. 40 vom 2. Oktober 1965.) Trotzdem ist in letzter Zeit der Wille zu einer Renaissance in allen Bereichen spürbar. So ist es in Deutschland, einem bis heute wahrlich jungfräulichen Boden für das Ballett. einem Intendanten, nämlich Walter . Erich Schäfer in Stuttgart, gelungen, seine beiden Häuser allen drei Gattungen, der Oper, dem Sprechtheater und dem Ballett in gleicher Weise zu öffnen. Noch vor 15 Jahren stand das Stuttgarter Ballett analog den anderen Institutionen auf dem Nullpunkt. In langwieriger, harter Arbeit konnte eine entsprechende Leistungsbasis geschaffen werden.

Dazu waren zwei wesentliche organisatorische Maßnahmen nötig: dem Ballett wurde im Rahmen des Opernspielplans mehr Raum gegeben; durch Rundschreiben wurden Abonnenten gewonnen, die zusammen mit den Ballettfans durch behutsame Programmgestaltung langsam zu einem Publikum von Kennern herangezogen wurden. Wenn es also zur Zeit noch kein ausgeprägtes, breiteres Ballettpublikum gibt, so ist doch eine neue, ziemlich weitverbreitete Ballettbegeisterung vorhanden, die gerade im Falle Schäfer mit den richtigen Mitteln geweckt worden ist. Schäfer hat sich auch intensiv mit den Hintergründen dieser latenten Ballettbegeisterung auseinandergesetzt, und das dürfte wohl das Geheimnis seines Erfolges sein; nicht die moderne Welle der Pan- erotik oder eine gewisse Sehnsucht nach dem Schönen können die wahren Triebkräfte sein. Im Gegenteil: Die Begeisterung, die das Ballett treibt, ist die Begeisterung einer Jugend, die das Schöne belächelt, die das Schöne gar nicht will. Die echte Triebkraft, nach Schäfer, ist die Sehnsucht nach einer neuen Sprache, denn unsere alte sieht sich in zunehmendem Maße der Abnützung und der Beschmutzung ausgesetzt. Das Ballett muß daher inmitten der Bemühungen um eine Reinigung und Erneuerung der Sprache stehen. Es kann selbst zu dieser neuen, zeitgemäßen Sprache werden, wenn es imstande ist, sich vom Alltag zu lösen, um zum Sinnspiel, zum Symbol zu werden, einen Zustand der Zweckfreiheit und Gegenstandslosigkeit zu erreichen, um zur „absichtslosen Beschäftigung“ zu werden.

Ballettpublikum gibt es aber auch dort, wo es nicht mit künstlerischem Dirigismus herangebildet wurde. Das beweisen diverse gut besuchte Ballettfestivalis in Europa.

Um das Ballett aus seinem „perfektionierten Primitivismus“ (Horst Koegler) herauszuführen, bedarf es natürlich intensiver Anstrengungen der Ballettschaffenden, der Choreographen, Ballettmeister, Solo- und Corps-de-ballett-Tän-

zer, der Bühnenausstatter und der Ballettkomponisten. Erstens: Es müßte endlich eine allgemeingültige und-verständliche Ballettnotation gefunden werden. Alle bisherigen Tanzschriften von Beauchamps (fälschlich Feuilletsche Tanzschrift genannt) bis herauf zu Laban haben sich als unbrauchbar im obigen Sinne erwiesen, da sie viel zu kompli- žiert sind und eine Wissenschaft für sich repräsentieren. Berühmte Choreographien (etwa von Petipa oder Iwanow) werden zur Zeit daher großteils so weitergegeben, wie man einst Märchen von Generation zu Generation überlieferte.

Die Wiedergabe ist also großteils von der Fähigkeit der Choreographen abhängig, das Modell im Kopf zu behalten.

Zweitens: Es müßte ferner versucht werden, endlich vom als allein seligmachend gepriesenen Bewegungskodex weitgehend abzugehen, was ja schon Choreographen wie Michail Fokin oder Isadora Duncan versucht haben. Nicht miit dauerndem Erfolg, wie wir heute sehen. Fokin war wohl noch zu behutsam vorgegangen. Er durfte Petipa nicht verleugnen, schon um den damaligen Anti-Ballett-Schlachtrufen entgegentreten zu können. Die Duncan wiederum dachte, gleich alle Regeln über Bord werfen zu müssen, um ihre Idee von der totalen Freiheit der Körper zu realisieren. So erging es ihr wie allen radikalen Avantgardisten: Ihr Anti-Stil gehörte sehr bald wieder der Vergangenheit an.

Drittens: Weniger Selbstherrlichkeit mancher Ausführender, vor allem einer großen Zahl von Choreographen wäre wünschenswert. Nur ein künstlerisches Genie ist imstande, ein Theaterstück zu schreiben, es zu inszenieren und womöglich die Hauptrolle zu spielen. Auch wenn Choreographen seltener in der eigenen Kreation tanzen als Regisseure in der eigenen Inszenierung spielen, so haben sie trotzdem immer eine Doppelfunktion zu erfüllen, die des „choreauteur“ (die Terminologie stammt von Lifar), des Ballettschöpfers, vergleichbar mit dem Dichter, und die des „chorėgraphe“, des Ballettregisseurs, des Ballettmeisters. Da er natürlich keine Partitur im Sinne eines gedruckten und geschriebenen Regiebuches in der Hand hat, ist seine Aufgabe um so schwieriger. Nicht selten verliert er sich in Details. Viele weigern sich trotzdem hartnäckig, einer Gewaltentrennung zuzustimmen, die natürlich durch das schon erwähnte Fehlen einer allgemeingültigen Notation erschwert wird.

Im weiteren müßte natürlich unbedingt versucht werden, das Ballett von dem kümmerlichen Dasein als Staffage in Opern- oder Schauspielaufführungen zu befreien. Es sollte in der Oper nicht nur zur Überbrückung undramatischer Zwischenspiele oder im Schauspiel zu akrobatischen Bühnen- umbauern degradiert werden. Daß man es auch in den anderen Gattungen entsprechend einsetzen kann, ohne den Eindruck des Nummemhaften zu erwecken, beweisen nicht selten Musical-Produktionen oder neue Formen eines totalen Tanztheaters. Das Ballett hat seine größte künstlerische Krise, die des vorigen Jahrhunderts, überwunden. Doch haben wir aufzeigen können, welche Fehler ihm noch anhaften. Diese Fehler kann es nicht in einer „splendid isolation“ ausmerzen. Das Ballett muß sich für einen Stil entscheiden. Und es muß mehr Kontakt zu den anderen Formen der darstellenden Kunst anstreben. Wie es ein „totales Theater“ gibt, könnte es auch so etwas wie ein totales Ballett geben, das alle Darstellungsmöglichkeiten vereint und dabei Ausdruck unserer Zeit, unserer Lebensform ist. Es ist klar, daß unser heutiges Ballett nicht mehr allein auf den fünf Grundpositionen und den lediglich auf den körperlichen Fähigkeiten des Tänzers beruhenden drei Bewegungen, der horizontalen, der vertikalen und der Drehbewegung, fußen kann.

In unserem Jahrhundert ist es ja schon einmal einem der ideenreichsten künstlerischen Koordinatoren gelungen, das Ballett in jene Position zu heben, die wir hier bezeichnet haben: dem „monstre sacrė“ Diaghilew, der von 1909 bis 1929 mit seinen Balletts Russes Ballettgeschichte machte. Ihm gelang es erstens, die nationale Entwicklung des Balletts zu bremsen und an ihre Stelle eine weltweite Zusammenarbeit, eine Internationalisierung der bei Ballettkreationen zusammenspielenden künstlerischen Kräfte zu setzen. Die

Schule Diaghilews konnte alle Kunstrichtungen und alle Nationen in fugloser Synthese zu einer künstlerischen Sternstunde vereinen. An Stelle der zweitrangigen Ausstatter und Komponisten von früher ist eine Garde namhafter Komponisten und bildender Künstler getreten wie Strawinsky, Pro- kofieff, de Falla, Debussy, Ravel, Satie und Picasso (denken wir nur an die berühmte „Parade“' in Zusammenarbeit mit Cocteau und Satie), Braque, Matisse, de Chirico, Rouault, Leger. Die Namen von Diaghilews Choreographen sind bis heute in ihrer Bedeutung kaum verblaßt: Fokin, Massine,

Nijinska, Balanchine, Lifar. Ja, sogar die Dichter vermochte Diaghilew zu begeistern: Cocteau, Valėry, um nur die bedeutendsten zu nennen.

Serge Lifar, einem vom Tanz Besessenen — und auf einer unterkühlteren Ebene Georges Balanchine —, ist es gelungen, nach dem Ende dieser Blütezeit das Zeitlose aus der Schule Diaghilews zu retten und zu einem puristischen Stil zu formen, der wohl auch heute noch durchaus seine Gültigkeit hat. Er war es, der Jazz ballettisierte, er war es, der Bach als „zeitgemäßen Ballettkomponisten“ entdeckte („Bach et la danse: un retour aux sources“), er war es, der eine Synthese zwischen dem akademischen Ballett von ehedem und den zeitgenössischen Strömungen in seinem neoklassischen Stil realisierte. In Zusammenarbeit mit Werner Egk, dem wir mit „Joan von Zarissa“ und „Abraxas“ zwei besonders markante Ballette verdanken, gelang ihm sogar eine Synthese zwischen dem klassischen Ballett und dem leidenschaftlichen deutschen Ausdruckstanz.

Seine klärende Definition des Begriffes Stil im Ballett ist daher auch heute von großer Bedeutung: Stil ist erstens die Übertragung der natürlichen Formen in den künstlerischen Bereich; zweitens: Stil wird durch den Menschen und die „collectivitė“ geschaffen; drittens: die Stile formen die Epoche, nicht der Mensch. Aber der Mensch hat zuerst die Natur stilisiert. Der Mensch selbst wird, nach Lifar, stilisiert, man „vergißt“ auf die Bewegungen — das Ballett wird geboren — das ballett pur und das ballett total zugleich. Lifar will die mathematische und motorische Besessenheit verlassen, um reformativ einen neoklass(izist)ischen Stil zu schaffen, in dem weder die Seele noch der Ausdruck noch der Körper zu kurz kommen, der auch an eine schöpferische Schönheit anschließt und gleichzeitig dem Ausführenden wieder die Möglichkeit zum Atmen gibt. Das Resümee aus Lifars künstlerischer Konzeption kommt den oben paraphrasiert wiedergegebenen Äußerungen Schäfers sehr nahe. Auch er wünscht die Tanzsprache als Syimbolsprache, nicht das Ballett als regellosen, pseudo-primitiven freien Tanz oder als veristisches Milieu- oder Handlungsballett.

Auf unserem Weg zu Balanchine dürfen wir nicht a.m Schaffen eines weiteren großen Synthetikers, des römischen Ballettdirektors Aurel von Milloss, vorübergehen. Bei Cec- chetti geschult (wie Lifar), dem Expressionismus Labans verpflichtet, verwirklicht er, Choreautor und Choreologe zugleich, seine Tanzschöpfungen in einer Synthese von darstellender und bildender Kunst. In seinem Konzerttanz steht, wie bei Balanchine, die Idee vor der Handlung. Seine Tätigkeit an der Wiener Staatsoper war für das Publikum und die Tänzer gleichermaßen anregend. Außerdem hat er Maßstäbe gesetzt, die nicht mehr außer Betracht gelassen werden dürfen.

Meine ganze Lebensauffassung ist Funktion meiner tänzerischen Mentalität.“ Dieses Wort Lifars gilt auch für den zweiten großen Puristen und Neoklassizisten des zeitgenössischen Balletts, für Georges Balanchine. Auch er will eine Lebensauffassung durch den Tanz allein geben und lehnt daher das Handlungsballett als literarische Hilfe ab. Auch er ist ein Dolmetscher der Klassik, nur auf noch ornamentslosere, großlinigere und konsequentere Art. Sein abstrakter Stil eines „ballet pur“ scheint wie eine Fortsetzung der Bauhausgedanken auf dem Gebiet des Balletts. Balanchine ist der rechnerische, der intellektuelle Choreograph, der die „Aufgabe für den Lebensbeweis des Balletts im Zeitbezogenen sieht“ (O. F. Regner). Er gibt sich der Musik zugewandter als Lifar, er hat Musik und Theorie studiert, er benützt als einer der wenigen die Labansche Notation: ein Partiturenchoreograph par excellence. Er verdolmetscht nicht nur die Klassik, sondern er choreographiert auch alle Arten der Musik unseres Jahrhunderts: die Elektronemusik

(„Electronics, 1961), die Zwölftonmusik („Ivesiana“ von Charles Ives, 1954) und den Modern Jazz. Er ist zugleich Bewahrer der Danse d’ėcole und Gestalter des Neuen Ballets. Für ihn gilt der Satz: „Der Choreograph ist das Ballett.“

Daher fand auch der bekannte Musikhistoriker, der Sohn des berühmten Gründers der „Enciclopedia dello spettacolo“, Fedele d’Amico, auf die Frage nach dam Überleben des klassischen Balletts heute nur eine Antwort: es überlebt im durchaus zeitgemäßen Schaffen Balanchines. In seinem Vortrag für das Bregenzer theaterwissenschaftliche Seminar (veranstaltet vom Institut für Theaterwissenschaft an der Universität Wien) stellt er diese wesentliche Frage zweigeteilt: Besteht das Überleben nur darin, daß klassische Beispiele heute verdolmetscht aufgeführt werden können oder auch darin, daß solche Werke heute wieder entstehen? Der zweite Teil der Frage wäre vor dem zweiten Weltkrieg noch glatt zu verneinen gewesen. Heute aber gibt es mit Balanchine einen Choreographen, der unter freiem Umbau seiner Syntax, aber unter Beibehaltung seiner geistigen Eigenart klassisches und gleichzeitig modernes Ballett schafft. Mit transzendentaler Raffiniertheit löst Balanchine die choreographischen Probleme seiner Schöpfungen, ohne die Regeln der Danse d’ėcole über Bord zu werfen. Das Ergebnis ist ein einheitlicher Stil, ist leuchtende Symbolkraft geistiger Integrität. Es ist bewunderungswürdig, daß all das in der geistigen Verarmung und Zersplitterung unserer Zeit möglich wird. Sein Ballett ist dabei gleichzeitig Ausdruck der Lebensform. Aber es weist auch in die Zukunft, indem es von der Bühne her unserer Epoche Lebensform gibt.

"T\as Bregenzer Seminar über die Erscheinungsformen des Balletts hat bewiesen, daß die Renaissance dieser noch manchenorts stiefmütterlich behandelten Gattung der darstellenden Kunst in allen Bereichen voll im Gange ist. Eine durchaus internationale Schar von Wissenschaftlern und Praktikern, von Balletthistorikern, Pädagogen, Kritikern, Choreographen und Tänzern stand eine Woche lang in Vorträgen und Diskussionen Rede und Antwort. Und das vor einem ansehnlichen Forum von Forschern, Studenten und, was nicht deutlich genug unterstrichen werden kann: vor einer großen Anzahl ausübender Künstler. Nichts kann dem Ballett dienlicher sein als dieser damit vollzogene Brückenschlag zwischen Theorie und Praxis.

Hoffen wir, daß Serge Lifars optimistischer Blick in seine einstige russische Heimat global übertragbar wird: Lifar konstatiert eine Entwicklung auf eine Art „Volksaristokratie“ hin, in der die Tänzer imstande sein könnten, dem Leben einen adelnden Stempel aufzudrücken.

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