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Bedrohtes österreichisches Kulturgut

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Unter den kulturellen Schätzen, die dem wiedererstandenen Österreich eine gewaltige geschichtliche Vergangenheit zu treuen Händen überliefert hat, Schätze, deren Reichtum und Bedeutung den neuen, um seiner Kleinheit willen von vornherein auf eine rein künstlerisdi-wissenschaftliche „Ex-' pansion“ abdrängen, steht das österreichische Staatsarchiv mit in der ersten Reihe. Diese Tatsache ist der breiten Öffentlichkeit nicht sehr geläufig: die Museen mit ihren Bildern und Plastiken, ihren Waffen und Münzen, ihren naturwissenschaftlichen und technischen Schaustücken, ja selbst die Bibliotheken mit ihren Handschriften und Büchern sind volkstümlicher als unser Staatsarchiv, trotzdem es bereits seit Jahrzehnten in einer umfänglich zwar bescheidenen, aber immer sehr klug zusammengestellten Sd.au — sie ist gerade in diesen

Tagen wieder neu eröffnet worden — eine Anzahl seiner Kostbarkeiten vor aller Welt ausbreitet. Jeder Besucher dieser kleinen Ausstellung erstaunt ob der Vielfalt der in einem Jahrtausend österreichischer Geschichte — die älteste Urkunde ist ein EHplom Kaiser Ludwigs des Frommen — aufgesammelten Schriftendenkmale: von den Zeugnissen eines oft erbitterten Ringens um Glauben und Kirchentum und den zu kilometerlangen Faszikelreihen angewachsenen Dokumenten der äußeren und inneren Politik, der Entwicklung der Finanzen, der Wirtschaft und der Gesellschaftsstruktur, des Schulwesens und des literarischen und künstlerischen Lebens, der Verwaltung und des Rechtes bis herunter zu den täglichen Kleinlichkeiten des höfischen Haushaltes — es fehlt kein Zweig menschlidier Tätigkeit im Umkreis staatlicher Gemeinschaft, nur

3er „Krieg* bleibt außen, seine Urkunden“ verwahrt das sondergestellte Heeresarchiv.

Die ganze Bedeutung dieser einzigartigen Ballung gesdiichtlichen Stoffes begreift sich aber erst, wenn man erwägt, was dieses Österreich vom sechzehnten bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein gewesen ist: d i * europäische Geschichte fast eines halben Jahrtausends — und das heißt für diese Jahrhunderte die Geschichte der We 1 t — kann nidit geschrieben werden ohne Benützung des österreichischen Staatsarchivs. Und es sind auch, seit 1918 eine einsichtige Verwaltung die Benützungsgrenze bis in die jüngste Vergangenheit erstreckte, ausländische Forscher in steigender Zahl nach Wien gekommen und haben nicht nur für den Hodistand des österreichischen Ardiivwesens und für Wien als einen mächtigen Rüstplatz geschichtlicher Wissensdnaft Zeugnis abgelegt.

Der organisatorische Aufbau des österreichischen Staatsarchivs in seiner heutigen Gestalt, reicht nur auf wenige Jahre zurück. Bis zum Jahre 1938 standen die Archive der Zentralstellen: das „Haus-, Hof- und Staatsarchiv“ für die auswärtigen Angelegenheiten, das „Staatsarchiv des Innern“ für die Geschäfte des Innenministeriums und der Justiz, das „Hofkammerarchiv“ •für die Finanzen und die staatliche Wirt-? Schaftspolitik bis 1830, das „Finanzarchiv“ für die gleichen Belange ab 1831 und das „Unterrichtsarchiv“ für das Kultus-, Schul-und Wissenschaftswesen — bis 1938 standen diese fünf Zentralarchive selbständig nebeneinander, das nationalsozialistische Reich schuf dann durch ihre Zusammenfassung zu einem Körper das „Reichsarchiv Wien“. Das war keine Erfindung des Dritten Reiches, der Gedanke lag der planmäßigen Aufbauarbeit der vornazistischen Zeit deutlich erkennbar zugrunde, und das Reich erntete bloß, was andere gesät hatten.

In dieser Gestalt hat das neue Österreich das Staatsarchiv übernommen — es hat gut daran getan, es in seiner letzten organisatorischen Form zu belassen, es nicht wieder in das Nebeneinander von fünf großen Zcntralarchiven aufzulösen, da die inneren sachlichen Zusammenhänge zwischen den einzelnen Abteilungen stärker sind als das in der Verschiedenheit der Ressorts gelegene trennende Moment. Mit diesem Juwel hat der neue Staat aber naturgemäß auch die Verpflichtung zu sorglicher Betreuung und fruchtbarer Auswertung übernommen, eine Verpflichtung, die zunächst ein nicht ganz leicht zu bringendes Opfer verlangt. Denn der Zustand, in dem sich dieses Kleinod befindet, ist wahrhaft traurig. Die steigende Luftgefahr in den letzten Kriegsjahren zwang zu einer weitgehenden Verlagerung der wichtigsten Bestände außerhalb Wiens: eine Reihe von Schlössern und anderen Gtoßgebäuden im nördlichen Niederösterreich, aber auch alte, aufgelassene Stollen im Salzkammergut wurden zur Bergung von Archivalien herangezogen. Doch man hatte in überheblicher Siegessicherheit nur mit der Bombengefahr gerechnet, nicht aber damit, daß unser Land selbst Kriegsschauplatz werden könnte. Und so wurden die Schutzmaßnahmen gegen den Bombenkrieg einer Reihe von Beständen des Staatsarchivs zum Verhängnis. Während die Zentralarchivgebäude in Wien von den Bomben verschont blieben und auch die Kampfhandlungen, die der Besetzung der Bundeshauptstadt vorangingen, heil überstanden, wurde mancher Bergungsort zum Mittelpunkt heißer Gefechte, in deren Verlauf die dort untengebrachten Archivalien zur Gänze oder zum Teil vernichtet wurden. Später kam das eingelagerte Archivgut durch Freimachung der belegten Räume für Einquartierung vielfach zu schwerem Schaden.

Nun konnten zuerst infolge der Not an geeigneten Lastkraftwagen und dann zufolge der Treibstoffknappheit die verlagerten Archivalien noch nicht zur' Gänze heimgeholt werden, zumal auch ein Teil auf heute' tschechoslowakischem Staatsgebiet liegt. Und doch wären von Seite der Bundesregierung alle nur denkbaren Anstrengungen zu machen, um diese Rückführung zum Abschluß zu bringen. Denn die Versammlung aller erhalten gebliebenen Bestände an ihrem alten Aufstellungsort i ist die Voraussetzung für die innere Neuordnung des großen Gesamtarchivs. Hier ist kein Ort, an dem gespart werden darf, denn hier geht^os um die Rettung unersetzlichen Kulturgutes und um seine baldmögliche Wiedererschließung. Nun müssen ja freilich die gefährdeten

UrTtenaszittel jede MifsTian'cfTung stumm hinnehmen und die schwadien Stimmen der wenigen Archivfachleute und Forscher gehen unter im Lärm einer um ihr nacktes Dasein ringenden Gegenwart. Gleichwohl kann hier jeder zu Unrecht g e-iparte Groschen zur Ursache eines nie wieder gutzumachenden Schadens werden! Wenn irgendwo — das ist die eine Forderung, die zu «teilen ist —, so tut hier in eine weite Zukunft vorausschauende Großzügigkeit not.

Aber das Problem des Wiederaufbaues 8es österreichischen Staatsarchivs hat noch eine zweite, nicht weniger bedeutende Schwierigkeit, über die einmal in aller Offenheit gesprochen werden muß, selbst auf die Gefahr hin, daß die notwendige Feststellung der Wahrheiten mißdeutet und ihre Motive verdächtigt werden. E s fehlt an einer genügenden Zahl geschulter erfahrener Beamter, um der katastrophalen Wirrnis Herr zu werden. Wer jemals in einem Archiv gearbeitet hat, weiß nur zu gut, daß die „Reponierung“ von Aktenstücken an falscher Stelle ihre Unauffindbarkeit bedeutet — und nun sind ganze Bestände mit Hunderten von Faszikeln völlig durcheinander gekommen. Sdion die Betreuung eines in Ordnung befindlichen Archivs erfordert neben Sachkenntnis vor allem Erfahrung, wn wieviel mehr die Wiederherstellung gänzlich in Verwirrung geratener Ardiiv-

Korper! Tm T. Marz 1938 verfugten die fünf Abteilungen des Staatsarchivs über zwanzig wissenschaftliche Beamte, heute sind ihrer kaum halb so viele und in ihrer Mehrheit neu zugeteilte! Wissenschaftler, die in den alten Ordnungen bisher nicht gearbeitet hatten. In der wichtigsten und sdiwierigsten Abteilung „Haus-, Hof- und Staatsarchiv“ ist heute kein einziger, die Tradition wahrender „alter“ Beamter, ebenso in den Abteilungen „Hofkammerarchiv“ und „Finanzarchiv“! Dieser Zustand macht heute die Benützung dieses kostbaren Schatzes österreichischer Geschichte jedem wissenschaftlichen Arbeiter zur Qual. Nicht zu Unrecht ist jedes „Archiv“ seit je von einem Hauch des Geheimnisses umwittert, wirklich „kennt“ ein Beamter sein Archiv erst nach jahrelanger Arbeit. Gut, man mußte Beamte im Sinne der Denazifizierungsvorschrifte'n entlassen. Aber was man nicht tun mußte, war, ohne Rücksicht auf die Folgen auch Minderbelastete auszuschalten, obschon das Gesetz -die Möglichkeit ' vorsieht, auf die L e b e n s n o t w e n d i g k e i t c n dieses wichtigen Instituts Rücksicht zu nehmen. Es ist sinnwidrig, den bestehenden, unhaltbaren Zustand länger aufrechterhalten zu wollen. Es wäre denn, man hielte es für gleichgültig, wenn höchste Werte entwertet werden und einer der Grundpfeiler angetastet wird, auf denen Österreichs kulturelle Großmadit-stellung beruht.

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