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Bewältigt der Film soziale Probleme?

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DER FILM IST NOCH IMMER der eindringlichste Versuch, die Fülle des Wirklichen bildhaft darzustellen und nunmehr auch akustisch wie plastisch zu betonen. Gegenüber den Realitäten, die er vorzuweisen bemüht ist, zeigt sich der Film freilich noch um eine Realität gekürzt. In einem bestimmten Sinn kann daher der Film nur oberflächlich darstellen.

In der Art der Filmdarbietung sind — im historischen Ablauf gesehen — die Nordamerikaner vor den Europäern dessen gewahr geworden, was das Wesen des Films ist. Heute, nach der Europäisierung des amerikanischen und der Amerikanisierung des europäischen Films, ist man sich dieses Tatbestandes weniger bewußt.

Im Ursprung war jedenfalls der Film für den Europäer eine besondere Form des klassischen Theaters. Daher auch das Bemühen der Europäer um eine Film-Kunst. In den USA sah man dagegen den Film stets als etwas Besonderes neben dem Theater an.

Die Großen des europäischen Films — denken wir an Asta Nielsen und Wegener — waren auch im Film in Geste und Mimik Schau-Spieler. Das, was sie schufen, war die sogenannte „Kunstfilmrichtung“, die vom amerikanischen Film des Ursprungs durchaus verschieden war. In den USA kamen daher, weil völlig andere Anforderungen an den Darsteller gestellt wurden, die großen Darsteller auch ohne den Umweg über das Theater zum Film. Der Film war eben für die Produzenten der USA eine völlig neue Art, Geld an Leuten zu verdienen, die erstmalig in der Geschichte der Arbeitswelt Langeweile, Zeit und Geld hatten. Den Massen aber mußte nicht Kunst geboten werden, sondern billige allgemeinverständliche Unterhaltung. Daher', auch die Darstellung anfänglich in der Art einer Pantomime, das groteske Pathos und eine Primitivform der Handlung. Ausreichend, um die Menschen, auch die Analphabeten unter ihnen, zum Schauen, zum Vergessen und' zum Staunen zu bringen.

In der Zwischenzeit aber ist der Film, weil er ein Welt geschäft sein soll, uniform geworden, hat sich dem Sprechtheater genähert und ist eine Art von Zweidritteltheater geworden, zum Theater mit einer besonderen Mobilität und ohne die so faszinierende Tiefe des Raumes. Die entscheidenden Effekte des Films sind abei immer noch im Optischen und nicht im Verbalen angelegt.

In seiner inhaltlichen Darstellung vermag der Film auf eine besonders eindringliche Weise die kleinen Dinge des Lebens in das volle Licht zu heben und eine neue Darbietungsweise der intimen Atmosphäre zu schaffen. Insbesondere haben es die Angloamerikaner — und seit dem zweiten Weltkrieg besonders die Italiener Neo- verismo — allmählich verstanden, die Bagatellen des Alltags in einer oft genialen Art der Komposition zu sammeln oder den monotonen Ablauf des täglichen Lebens in einem System des Zeitraffers zu dramatisieren.

WAS ABER DER FILM bisher nur ausnahmsweise darzustellen vermochte, das waren die gesellschaftlichen Strukturen und die sozialen Anliegen der Zeit. Dem Film war es wohl möglich, das, was man Wirklichkeit nennt, zu zeigen, aber dadurch noch nicht die Wahrheit. So gelang es dem Film, Wirklichkeit nur als Teilwirklichkeit anzudeuten, etwa wenn im sozialkritischen Film des Ostens die Lohnausbeutung als die einzige Form der Lohnzurechnung angedeutet wird. Sichel kann ein sozialer Konflikt geradezu repräsentativ für eine soziale Situation sein, anderseits vermag aber eine soziale Auseinandersetzung durchaus eine Randerscheinung zu sein und keir Hinweis auf die sozialen Strukturen und di soziale Hierarchie. So kommt es zu den Lieber repräsentationen im Film, wenn Grenzerschei nungen für das Ganze zu stehen haben. Darüber hinaus kommt es nicht allein darauf an daß eine Wirklichkeit angeleuchtet wird, son dern auch wie sie angeleuchtet wird. AehnlicI wie in der Photographie, in der es auch nich nur von Bedeutung ist, was belichtet, sondern was nicht belichtet wird. Erst die Montage von Einzelheiten zu einem Ganzen kann zeigen, wieweit der Film wahrhaftige Aussage ist.

FÜR DEN FILM DER GEGENWART ist es jedenfalls charakteristisch, daß er allzuoft vor der Wirklichkeit flieht, eine Filmwirklichkeit präsentiert und durch substanzlose Phrasen und vordergründige, nur publikumswirksame Szenen die Wahrheit verdeckt, wie etwa im deutschösterreichischen H e i m a t f i 1 m. Dort kommt es zu drastischen Vereinfachungen des Volkslebens und zur Reduktion desselben auf Szenentypen. Das ländliche Volksleben wird so zu einer Summe von Moritaten, Attraktionen für die Schau- und Hörlust der Primitivschichten in der Bevölkerung. Auf diese Weise kommt es zu einem drastischen Realitätsverlust des Films.

AN ZWEI DINGEN sei das Gesagte erläutert, an der Art, wie die Freizeitgesellschaft dargestellt wird, und an der eigenartigen Fixierung von sozialen Typen im Film.

Der Arbeitsgesellschaft ist eine Freizeitgesellschaft entwachsen, weil die Massen nun Freizeit und angemessene Kaufkraft haben. In 'der Freizeitgesellschaft zeigen die Menschen, weil sie Freizeit haben, bestimmte Verhaltensweisen, die zu zeigen ihnen innerhalb der disziplinierten Arbeitsgesellschaft nicht möglich ist.

Der Film schildert das gesellschaftliche Leben so, als ob es nur im Bereich einer Freizeitgesellschaft aktualisiert werden könnte. Die überwiegende Mehrheit der Filmhandlungen sind Freizeithandlungen.

Die Bauern bewegen sich daher meist nur im Gasthaus und auf dem Tanzboden, wenn sie es nicht vorziehen, zu fensterln oder zollhängige Waren entgegen den einschlägigen Bestimmungen — selbstverständlich jeweils in dramatischer Form — über die Grenze zu bringen.

Der Arbeiter wird — als Arbeiter — im Film kaum dargestellt. Wo er dennoch sichtbar gemacht wird, zeigt er sich im Familienkreis oder in sozialen Konfliktsituationen. Anderseits versucht der Film das Vorhandensein gesellschaftlicher Ränge und Typen anzudeuten, die in unseren Bereichen einer vergangenen Klassengesellschaft oder gar einer herrschaftsständischen Ordnung zuzurechnen sind. Durch die Projektion einer historischen gesellschaftlichen Hierarchie in die Gegenwart kommt es zu Stilmischungen und zu einer Vermengung sozialer Merkmale. Denken wir etwa an die Herausstellung der D i e n e r f i g u r, die wohl für die Dramatisierung bisweilen dienlich sein mag, keineswegs aber in ihrer Häufung eine gegenwärtige soziale Wirklichkeit auszuweisen vermag.

Jedenfalls muß dem Film, ob er nun die Gesellschaft als Ganzes oder in ihren Grundtypen herausstellt, der Vorwurf gemacht werden, daß er, um des Effektes lies: Gewinnes willen, bestimmte Typen überrepräsentiert und anderseits in einer unverantwortlichen Weise Teile des Wirklichen, Grundtypen unserer Gesellschaft, vernachlässigt.

Anderseits gibt es aber die, vom Geschäftlichen her gesehen, geradezu heroischen Experimente des Neoverismo, mit seinem Ausleuchten des Milieus bis in die toten Winkel des Alltags.

JEDENFALLS SCHEINT ES SO ZU SEIN, daß die oft erstaunliche und auch mit dem Handlungsablauf nicht abgestimmte Heraushebung von Einzelheiten und Tatsachen erheblich mehr als früher vom Starkult bestimmt wird. Dem Star entspricht eine geradezu mythische Verehrung, die dazu führt, daß die Welt nicht geschildert wird, wie sie ist auch wenn man vorgibt, das zu tun, sondern gezeigt wird bezogen auf einen bestimmten Darsteller, seine Fähigkeiten und Unfähigkeiten. Die „kleine Welt“ des Films ist oft nur die kleine Welt des Darstellers, die er schauspielerisch zu bewältigen vermag. Die Präsentation von Sach verhalten wird dann zur Präsentation von Star verhalten.

Dadurch wird auch das Soziale in einem Helden inkarniert, der nur sich selbst und nicht Probleme darstellt. Die Weite der sozialen Aussage ist so nur identisch mit der schauspielerischen Kapazität des Darstellers. Es sei an Chaplin erinnert.

Ueber bestimmte Verbrauchsweisen, die der Film demonstriert, schafft er — wie schon einmal in der „Furche“ angedeutet wurde — Verbrauchsvorbilder und läßt ein Konsumwissen bei den Massen gewinnen, das nicht mit ihrem Konsumvermögen abgestimmt ist. Die „Konsumversuche“ führen daher oft zu Konsumexzessen, zu Ressentiments und zur sozialen Unzufriedenheit. Insbesondere gilt das für das Maß an Freizeit. Marx sagte einmal — und für seine Zeit mit Recht —, daß sich die Größe an Reichtum im Umfang an Freizeit darstelle. Der Filmheld lebt fast durchweg nur im Bereich der Freizeit. Dadurch kommt es beim Filmbesucher, der meist „nebenher“ auch noch arbeiten muß, zu Verdrängungserscheinungen und zur Disqualifikation seiner Arbeit.

DER FILM ALS SPIELFILM vermag also nur, weil er die Möglichkeiten nicht zu nutzen verstand, in einem dürftigen Umfang soziale Aussagen zu machen. Anderseits führt er oft in einer bedenklichen Weise soziale Konflikte herbei.

Nun hat aber der Film der Gegenwart noch eine große Chance: die Wiedergabe sozialer Sachverhalte im Dokumentarfilm, wie dies Roman Herle in mehreren Vorträgen feststellte.

Schon mehrmals hat es der Film versucht, sich dem Gesicht des Menschen und der Wirklichkeit des täglichen Lebens zuzuwenden. Nicht dem Gesicht des Stars und nicht allein der Traumwelt, einer zweiten, einer Atelierwirklichkeit, sondern den Sachen und Menschen ohne Maske.

Die Gesellschaft ist eine komplexe Verflechtung von Menschen, von Zuneigungen, von Liebe und Haß, und auch eine Summe von Spannungen. Wenn der Film es vermag, sich dem maskenlosen Menschen zuzuwenden, und bemüht ist, ihn zu zeigen, wie er ist, muß er auch dem Menschen d i e soziale Rolle spielen lassen, die er tatsächlich in der Gesellschaft hat, und darf die Turbulenz, die in der Gesellschaft sich nun einmal zeigt, nicht überdecken.

Im völkerkundlichen Film, im eigentlichen Expeditionsfilm, in der betrieblichen Milieuschilderung etwa, hat der Film die Möglichkeit, den Rang einer besonderen Wirklichkeitsdarstellung und des attraktiven Lehrfilms zu gewinnen. Ebenso müßte es ihm mehr als bisher gelingen, die Verhaltensweisen des Menschen in der Freizeit wirklichkeitskonform einzufangen und auch die neuen Ausbeutungsweisen der Freizeitindustrie schonungslos aufzüdeckeri.

Gleiches wie für den Dokumentarfilm gilt auch für den Problemfilm. Auch er will, wie der Dokumentarfilm, nicht das Ganze einer Welt zeigen, sondern will oder soll, wie etwa in „Die Faust im Nacken", Probleme andeuten. Freilich führte der genannte Film durch Ueber- betonung der Bedeutung einer gewerkschaftlichen Unterwelt unbewußt zur Disqualifizierung der gewerkschaftlichen Bewegung als Ganzes.

UM SOZIALE PROBLEME, etwa jenes des Hungers in der Welt, zu bewältigen, bedarf es der Diagnose, gleichsam eingefangen in einem Lehrfilm. Die Dokumentation des Films, wenn sie ihm gelingt, bietet eindringlichere Einsichten, als ein Katalog von Zahlen es vermag. Wie erschütterte „Hunde, wollt ihr ewig leben?“, mehr als die ganze Stalingradliteratur es gekonnt hat, und wie sehr ließ der Film das Bild der Kleingesellschaft der deutschen Soldaten im Grauen von Stalingrad plastisch vor uns entstehen, um so mehr, als er — ein bemerkenswerter Versuch — Dokumente Wochenschauaufnahmen mit Spielhandlungen verwob.

Wie sehr hat der Film „Wir Wunderkinder" den deutschen Film auf die Höhe englischer Selbstironie gehoben, weil er — von einzelnen Vereinseitigungen abgesehen — Geschichte in für diese repräsentativen Szenen darbot. Der Sachverhalt der Profitgier, verdeckt hinter großen Worten vom „heilig Vaterland“, die Verklammerung einer bestimmten sozialparasitären Schichte mit den jeweils Herrschenden, wurde im Film in einer bis dahin unerreichten Weise ausgewiesen und eine unheilvolle Stabilität der Hierarchie der deutschen Wirtschaftsgesellschaft angedeutet, wie es besser in gelehrten Büchern kaum möglich gewesen wäre, da besagte Bücher eben nur wenigen zugänglich sind. Der Film aber ist eben auch im Bereich der Darstellung des Sozialen von der Qualität einer Armenbibel.

WER IM FILM ein Element der Erziehung, vor allem der nachschulischen, sieht, und auch eine Chance zur Darstellung der Wirklichkeit als Wahrheit, sollte ihn in seiner Bedeutung nicht unterschätzen. Jedenfalls ist heute der Film der wirksamste Transformator zwischen Wirklichkeit und Masse, und eine der großen Möglichkeiten, durch Darstellung der Gesellschaft von heute die Ansätze für eine Sozialreform zu verstärken.

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