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Bilanz von Venedig

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Venedig, im September

Drei Eindrücke bleiben als Summe des Besuchs der Filmkunstausstellung von Venedig 1953 beim Besucher zurück: der erste ist die umwälzende Bedeutung, die dem „Cinemascope“, dem „brillenlosen“ Raumfilm auf der Großleinwand, für das Filmerlebnis des Dokumentarfilms und der Filmrealistik zukommen dürfte. Der zweite ist, daß trotz interessanter Leistungen und guter Einfälle bei vielen Nationen im ganzen die überragende Leistung, das Film e r 1 e b n i s fehlt, und daß der billige, schlichte Film, wenn er nur gut konzipiert ist, durchaus neben dem Monsterwerk bestehen kann. Der dritte ist, daß die Rückschau auf die Filmgeschichte an Interesse gewinnt und zum Teil überraschende Erkenntnisse für den Film der Gegenwart eröffnet.

Den ersten Eindruck vermittelte die Cinemascopevorführung nach der Preisverteilung am letzten Abend der Filmschau. Nach einigen Proben aus normalen Farbfilmen wurden Flugzeugaufnahmen von Venedig, Bilder von einem Autorennen, Aufnahmen vom britischen Krönungszug, die Ton-aufnahme eines Orchesters im Studio, ein Tiefflug in Kurven eines Flugzeuges über der Wasserfläche und der Tanz in einer Revue gezeigt und schließlich Bruchstücke aus dem Film aus der Zeit Christi, „The Robe“, der gegenwärtig in New York läuft.

Der Eindruck, als auf der fast 20 Meter breiten Leinwand die Dächer von Venedig wie greifbar erschienen, war überwältigend. Die Illusion des Fluges überzeugend, körperlich spürbar. Dennoch Film, Illusion des bewegten Bildes, verstärkt durch den räumlichen Ton, der aus mehreren Lautsprechern von allen Seiten auf den Zuschauer zukommt und, von vier Tonbändern aufgenommen, dem Zuschauer den Ton im Raum vermittelt. Der Ton kommt nicht mehr irgendwoher von der Leinwand, sondern er wandert mit der marschierenden Kapelle mit. Die Stimmen und Geräusche haben ihren Ort auf der Leinwand, und der Zuschauer hört nicht nur das Jubeln der Menge beim Krönungszug, er hört, wie jeweils an der Stelle, wo der Krönungswagen vorbeifährt, der Jubel anschwillt, um an anderer Stelle zu verebben. Das ist vollkommener Film, das ist stärkste Illusionskraft, nicht mehr ein Fenster in die Welt, sondern ein Kino ohne vierte Wand, offen in den Raum.

Der Bruch beginnt, wo der Spielfilm beginnt. Denn wenn die Revueszenen noch „überzeugen“, die biblischen Spielszenen mit englisch sprechenden Legionären zur Zeit Christi in der Realistik dieses Raumes überzeugen nicht. Der einzelne in Großaufnahme, auf der breiten Leinwand redend, wirkt gemacht und puppenhaft. Hier wird die neue Möglichkeit noch nicht beherrscht, ja für die Intimität eines Kammerspiels etwa wirkt sie zerstörend. Hier ist der bisherige Film trotz aller Konkurrenz der Plastik der Stärkere. Aber trotzdem: hier — und nicht mit dem Brillenverfahren — wird dem Film wirklich eine neue Dimension erschlossen.

Der zweite Eindruck wurde am Schluß von der Jury bestätigt, als sie den Großen Preis von Venedig in diesem Jahr nicht verlieh.

Zum dritten Eindruck steuerte in diesem Jahr Frankreich bei, das durch seine nationale Kinemathek einen Querschnitt durch die Geschichte des französischen Films gab. Als letzten und 12. Vormittag zeigte es den Film von Abel Gance „Napoleon“, der vor rund 30 Jahren den Gedanken der dreigeteilten breiten Leinwand in seinem Film anwendete. Die Vorführung dieser Szenen vom Uebergang Napoleons über die Alpen nach Italien auf drei Apparaten auf der riesigen Cinemascopeleinwand, dem metallbelegten „Wunderspiegelschirm“, gab überraschende Wirkungen, die der des Cinemascopes entfernt ähnelten. Freilich hat Abel Gance nur zum Teil den ganzen Raum für eine Szene benützt, oft auch im Mittelbild den Feldherrn und an den Seiten das marschierende Heer, oder im Mittelbild als Symbol den napoleonischen Adler und an den Seitenbildern den Himmel gezeigt. Freilich fehlte die Farbe und damit auch eine Dimension der Wirklichkeit, aber gerade diese Demonstration zeigte, wie weit zurück die Revolutionen des Filmausdrucks zu verfolgen sind und daß jeder Kritiker und jeder, der wirklich über Film urteilen will, sich die Mühe nehmen müßte, die Klassiker des Films möglichst in chronologischer Folge wenigstens einmal gesehen zu haben. In dieselbe Kerbe schlug die Wand-bilderausstellung der UNSECO im Filmpalast, die freilich systematischer und durchgearbeiteter hätte sein können, als sie es war.

Es sind die Deutschen, deren von der Filmindustrie und den Länderregierungen erhaltenes Institut für Filmkunde in Wiesbaden für das Jahr 1954 eingeladen wurde, an der Biennale eine Rückschau über den deutschen Film und seinen Beitrag zur Filmgeschichte zu geben. Wann wird sich Oesterreich bemühen, daß es einmal seine Film-gesehichte zeigen kann?

Denn in dem Massenbetrieb konfektionierter Filmware geht es immer wieder darum, an den Werken, die aus dem Durchschnitt ragen, den Standort der Erscheinung Film, die Beherrschung des neuen Mittels, zu messen. Dazu können richtig organisierte Filmfeste dienen. Es braucht dazu aber ebenso den Querschnitt durch das Filmschaffen der verschiedenen Nationen wie den Rückblick, den Längsschnitt durch die Entwicklung.

Denn wir sind nicht allein in der Welt. Sie ist lg geworden. Und es gibt nur eine Welt, nur einen Film.

Außer den offiziellen Preisen des Venediger Filmfestivals, wurde zum Abschluß des großen internationalen Wettbewerbs wie alljährlich der Preis des Internationalen Katholischen Filmbiiros (O.C.I.C.) vergeben, und zwar an den spanischen Film von Rafael Gil „La guerra de Dios“. Das Preisgericht des OCIC bezeichnete damit den genannten Film, der übrigens auch vom offiziellen Preisgericht einen „Bronze-Löwen“ erhielt, als unter den vorgeführten Werken „am meisten geeignet, durch Inhalt und Form den geistigen Fortschritt und die Entwicklung der menschlichen Werte zu fördern“. Außer dem alljährlichen OCIC-Preis für den besten auf dem Festival gezeigten Film sollte in diesem Jahr zum ersten Mal, bei der gleichen Gelegenheit, der „große Jahrespreis des OCIC“ vergeben werden. Es wurde jedoch von den laut Reglement durch die katholischen Filmstellen aller Länder in Vorschlag gebrachten Werken keines als den hohen Ansprüchen dieses Preises voll entsprechend befunden, und somit auf die Verleihung des „großen Preises“ verzichtet. Immerhin wurden die hohen menschlichen Werte zweier der vorgeschlagenen Filme durch eine besondere Erwähnung hervorgehoben: „Crv thy beloved country“ von Zoltan Korda (England) und „The sun shines bright“ von John Ford (USA).

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